Artikel aus der Ausgabe 11/12-2020 - KGS Berlin - Körper Geist Seele

KGS Berlin
KGS Berlin
Magazin für Körper Geist und Seele
Magazin für Körper Geist und Seele
KGS Berlin
Direkt zum Seiteninhalt

Artikel aus der Ausgabe 11/12-2020

Archiv > Artikelarchiv > Artikel_2020
Art. 202011 - Wolf Sugata Schneider
Akte voller Bedeutung ... von Wolf Sugata Schneider
Rituale blenden, sie können aber auch befreien
Von der Zuckertüte des Schulanfängers über die Aufnahme in den Fußballclub (mit Trikot), Verlobungen, Hochzeiten und Scheidungen bis hin zum Entzug des Führerscheins bestimmen Riten und Rituale unsere Identität. Sie sind kommunikative Akte, die im Empfänger die Identität verändern. Das gilt für einen Freispruch vor Gericht ebenso wie die Ernennung eines Menschen zur Bürgermeisterin, die Vergabe des Seepferdchens an ein Kind oder die Taufe eines Erwachsenen, der damit einer christlichen Religion betritt.
Auch Gewohnheiten machen uns zu dem, wer wir sind; auch sie bestimmen unsere Identität. Egal, ob wir sie uns aus Angst vor dem Wechselhaften im Leben oder aus Hang zur Gemütlichkeit zugelegt haben, Gewohnheiten sind Identitätsgestalter. Im Falle von Meditation oder einer spirituellen Praxis können sie – mit ein bisschen Glück oder Gnade – Befreiung bewirken oder wenigstens eine positive Veränderung der Persönlichkeit. Im Falle von schlechten Ernährungsgewohnheiten hingegen sind sie eher Gefängnisse. Was haben alle diese Rituale für einen Sinn? Und wenn es darunter einerseits gute und nützliche gibt, andererseits schädliche oder gefährliche, wie unterscheiden wir die einen von den anderen? Und warum sind Rituale ungefähr so weit verbreitet wie Krankheiten? Die Suche von uns Menschen nach Identität und Beheimatung ist der Grund. Wir im Chaos der Welt Verlorene wollen wissen, wer wir sind. Rituale geben uns darauf Antworten. Einerseits einigermaßen plausible, andererseits ziemlich irre, je nachdem wie wir darauf schauen. Immerhin können sie uns eine Zeitlang Selbstgewissheit geben – bis zur nächsten Krise.

Am Anfang war das Wort
Um zu verstehen, welche Rituale taugen und welche nicht, lohnt es sich anzuschauen, wie sie biografisch entstehen. Mit der Sprache erlernt ein Kind auch die Regeln und Riten einer Kultur. Hierzu muss es eine sehr grundsätzliche Unterscheidung treffen: die zwischen Bedeutsamem und Bedeutungslosem. Worte sind Geräusche, die Bedeutung haben. Lärm hingegen ist eine amorphe Masse bedeutungsloser Geräusche. Auch unter den Gegenständen und Vorgängen gibt es bedeutsame und bedeutungslose sowie alle Arten von Zwischenstufen. Zunächst hört das Kind Laute, die aus dem Mund der Erwachsenen strömen. Nicht alle davon haben Bedeutung: Das Räuspern, Schnäuzen, Niesen oder Schmatzen etwa hat zwar im Kontext eine gewisse Bedeutung, aber diese ist nicht kulturell festgelegt. Das Räuspern bedeutet nicht generell »Das darfst du nicht!« und das Schmatzen nicht »Es schmeckt mir«. Bei Geräuschen wie »Nein", »Gut« oder »Komm her« hingegen ist das unter von der deutschen Sprache Geprägten anders, da ist die Bedeutung festgelegt. Das Erlernen dieser Grundunterscheidung und dann der Bedeutungen der einzelnen Zeichen (Geräusche, Bilder, Vorgänge) nennt man Akkulturation oder Prägung. Sie vertreibt uns aus dem kindlichen Paradies der Wahrnehmung des Ganzen, in dem alles Bedeutung hat und nichts aus diesem Ganzen herausgerissen ist.
Wir können diese Vertreibung aus dem Paradies nicht vermeiden. Außerdem hat Kultur ja auch gewisse Vorteile. Der Vorgang der Akkulturation zeigt jedoch einen Verlust an, denn mit ihm beginnen wir, die »unbedeutenden« Vorgänge, Gegenstände, Geräusche aus unserer Wahrnehmung zu verbannen. Irgendwann bemerken wir sie gar nicht mehr. Nun sind wir in einem Wahrnehmungstunnel. Was in diesem Sinne »keine Bedeutung« hat, das hören, sehen und fühlen wir nun nicht mehr. Die in den meditativen Kulturen praktizierte Achtsamkeit beansprucht immerhin, uns aus diesem Tunnel wieder rauszuführen. Inwieweit das gelingt, wäre nochmal woanders genauer zu beleuchten.  

Die Macht und Magie von Sprache
Jede gelingende Sprache versetzt die Empfängerin erstmal in eine Trance des »Ich verstehe«, die ihre Wahrnehmung einschränkt auf das vom Sender der Botschaft Gemeinte. Auch Rituale als eine besondere Form der Kommunikation funktionieren so. Sie können uns berauschen, verführen, verblenden. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dann können sie auch guten Zwecken dienen, denn der Clou dabei ist, dass sie imstande sind, einer Inszenierung, d. h. einem nicht im engeren Sinne sprachlichen Vorgang, die Macht und Magie eines sprachlichen zu geben.
Worte können in Trance versetzen. Meistens tun sie das und führen uns damit in eine gewisse geistige Umnachtung. Wenn sie hingegen bewusst angewendet werden und mit dem Ziel aufzuklären, was beides leider nur selten der Fall ist, nennen wir sie »weise Worte«. Ähnlich den Worten versetzten auch Rituale die daran Teilnehmenden oder es Beobachtenden in Trance. Aber auch Rituale können im Falle einer bewussten und aufklärerischen Anwendung aus Wahrnehmungtunneln hinausführen und so sogar die Trennung aufheben zwischen dem, was ein Zeichen ist und was nicht. Einem ansonsten nichtsprachlichen Vorgang wird dabei durch Inszenierung sprachliche Bedeutung gegeben, was im Idealfall den Dualismus der Trennung zwischen Bedeutsamem und Bedeutungslosem aufhebt. So wie Worte uns einst aus dem Paradies des Alles-hat-Bedeutung in die einzelnen, trennenden Trancen geführt haben, so können weise Worte und Rituale uns aus solchen Tunneln auch wieder hinausführen.

Wer wir sind
Das Besondere an der rituellen Kommunikation ist, dass sie Identität stiftet. Alle förmlichen Ernennungen machen sich das zunutze. Man sagt nicht einfach: Du bist jetzt ein Mann, eine Frau, unser Häuptling, oder (vor Gericht) unschuldig, sondern man inszeniert diesen Akt in der Form eines Rituals. Der Richter trägt einen Talar; wenn er in den Raum kommt, erheben sich alle. Am Ende der Verhandlung spricht er den Angeklagten schuldig oder unschuldig. Das verändert dessen Identität: Der erst noch Angeklagter war, ist nun entweder ein Verurteilter oder ein Freigesprochener. Ebenso bei Jungen, die gerade zu Männern wurden; bei Vorsitzenden, die von ihrer Partei gewählt oder abgewählt wurden; bei zum Häuptling Ernannten, frisch Verheirateten oder frisch Geschiedenen.
Rituale definieren jedoch nicht bloß die Identität von Individuen, sondern auch die von Kollektiven, von Kulturen und Nationen, Subkulturen, Cliquen, Gangs und Szenen. Von der Zweierbeziehung angefangen (»Gehen wir jetzt miteinander?«) bis zur Aufnahme in eine Weltreligion (»Hiermit bist du getauft«), wird die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen von Eintritts- und Austrittsriten bestimmt. Bist du nun einer von uns oder nicht? Das legt der Ritus fest. Oft ist dieser allerdings eher ein »stillschweigender«, das heißt, ein von den Gruppenteilnehmern als solcher verstandener, obwohl er nicht so genannt wird. Solche Riten bestimmen unsere Identität, von der Zuckertüte des Schulanfängers über die Aufnahme in den Fußballclub bis zum Entzug des Führerscheins aus Altersgründen. Sich solcher Identitäten bewusst zu sein und sie zu guten Zwecken wandeln zu können, das wäre die zu erstrebende spirituelle Freiheit.
Und auch das einzelne Ego bewegt sich gemäß solcher identitätsstiftenden Riten: Es sind seine Denk- und Verhaltensgewohnheiten. Als einzelne definieren wir uns durch das, was sich in unserem Leben wiederholt. »Einmal ist keinmal«, sagt man – etwas einmal zu tun, stiftet in der Regel noch keine Identität. Erst wenn Handlungen sich in unserem Alltag wiederholen, schleichen sie sich wie Mantren in unser Selbstverständnis ein und konstituieren so unser Ego. Für immer? Nein, es gibt einen Ausweg: Bewusstsein! In diesem Fall: Sprachbewusstsein.

Wolf Sugata Schneider, Jg. 52, Autor, Redakteur, Humorist. 1985–2015 Herausgeber der Zeitschrift Connection.
Kontakt: schneider@connection.de, Blog: www.connection.de, Seminare: www.bewusstseinserheiterung.info

Art. 202011 - Magdalena Werner
Die Bedeutung von Ritual und Zeremonie ... von Magdalena Werner
Wir tauchen unseren Blick in die Tiefen der Zeitgeschichte. Sie antworten unserer Suche mit immer näherkommenden Trommelklängen, die uns in eine nächtliche Szenerie mit schemenhaft tanzenden Menschen tragen. Ihre rhythmischen Gesänge weben sich in das immer lauter werdende Trommeln. In das Geschehen sinkend, mischen wir uns inmitten dieser Menschengruppe, die mit wilden Gesten um ein großes Feuer herumwirbelt. Die Menschen sind kaum bekleidet. Farben und klangvoller Schmuck zieren ihre Körper. Ihr Stampfen und Singen wird immer lauter. Die Luft bebt. So auch das Herz eines jungen Mannes, der im Schein der Flammen und von seinem Stamm umrundet in das Bild tritt. Die Stammesältesten erheben ihn in den Status des Kriegers. In dieser Nacht wird sein Übergang vom Kindsein in eine neue Reife zeremoniell zelebriert. Dann verklingt das Bild.

Vergessene Wege
Wir Zivilisierten kennen solche Szenen meist nur aus Dokumentarfilmen über Naturvölker und nicht aus dem eigenen Erleben. Die beschriebenen Seelenbilder – ferne Erinnerungen an unsere indigenen Ursprünge – mussten veränderten sozialen Bedingungen und einem Rückgang spiritueller Ansichten weichen, und nicht zuletzt einem wegrückenden Fokus auf natürliche Zyklen.
War es früher der ganze generationsübergreifende Stamm, der uns in ein enormes Wissen über die komplexen Zusammenhänge des Lebens einweihte, so wachsen wir heute meist in Kleinfamilien auf und die Verantwortung für viele unserer Entwicklungsstadien sowie Übergänge sind in den gängigen institutionellen Konstrukten eingebettet.
In beiden zeichnen sich zwar auch Feiern und Würdigungen einiger Lebensabschnitte ab, die auch Rituale beinhalten wie alljährliche Geburtstage, Einschulung, Konfirmation, Volljährigkeit, Schulabschluss, Heirat, Pensionierung ...
Diese kommen jedoch möglicherweise der Bedeutungsdichte und Intensität einer wie beschriebenen archaischen Zeremonie selten nahe. Die meisten dienen als Eckpfeiler in der äußeren Welt. Aber was ist mit dem inneren Erlebensraum? Die meisten dienen als Eckpfeiler in der äußeren Welt. Aber was ist mit dem inneren Erlebensraum?
Es scheint, dass manche wertvolle Entwicklungsprozesse als solche nicht wahrgenommen werden von unserer schnelllebigen Gesellschaft. So stolpern die meisten von uns von einer Entwicklungsstufe in die nächste, ohne dass die Psyche wirklich die Zeit hat, zu reifen. Zwar tragen wir dann Bezeichnungen wie geschlechtsreif, Eltern, verheiratet/geschieden, pensioniert – aber sind wir in diese Stadien wirklich bewusst hineingewachsen? Oder sind wir noch im Pathos eines früheren Lebensabschnitts verhaftet?
Viele der Übergänge zwischen den Entwicklungsstadien können undefinierte Schwebezustände sein, die in uns ein stilles sehnsüchtiges Suchen nach Identität, Zugehörigkeit und Orientierung wachhalten.
Wir können nur die Kreise verlassen, die wir bewusst geschlossen haben.
Man kennt sie: jene seit ewig Volljährigen, die im Stadium des Jugendlichen stecken geblieben sind, wie auch jene, die nostalgisch ihrer lange geschiedenen Ehe hinterhertrauern oder Rentner, die tagein, tagaus wehmütig von ihrer ehemaligen Arbeitsstelle reden.
Immer wenn wir eine Rolle theaterreif beibehalten, selbst wenn sie faktisch längst vergangen ist, verbrauchen wir einen Teil unserer Lebenskraft. Verlassen wir alte Lebensabschnitte nicht bewusst, bleibt immer etwas von der alten Energie zurück. Unklarheit und Widersprüche im Inneren entstehen und hinterlassen ungeklärte Zwischenzustände, die dann unbewusst Haltlosigkeit und Orientierungslosigkeit verursachen können, in einer Gegenwart, die uns ganz andere Schätze offenbaren will.
Einweihungs-Zeremonien und Übergangsrituale beinhalten ein tiefes archaisches Wissen über natürliche Zyklen und die Übergänge von einem in den anderen Lebensabschnitt. Thematisch sind diese Erfahrungen eng verbunden mit Tod und Wiedergeburt. Von Verabschieden und Willkommen-heißen. Geschieht dieses mit einer bewussten Haltung und Intention, sind diese Zeremonien eine wunderbare Möglichkeit, alte Räume zu schließen, und neue (Erfahrungs-) Räume zu öffnen.

In die eigene Kraft eintreten
Psychologisch betrachtet wird mit dem Übergangsritual also bewusst etwas Altes beendet, damit wir vollständig und bewusst in etwas Neues eintreten können.
Bei unserer Suche nach Identität sind wir nicht nur abgetrennt von einem natürlichen Rhythmus, sondern meist auch von Menschengruppen, die uns in unserer psycho-emotionalen Entwicklung begleiten könnten.
Wie auch, wenn unsere persönliche Reifung oft mit Themen der Geschlechtsreife einhergeht und diese Themen bei nicht wenigen unserer Eltern und Großeltern, eine unaussprechliche Scham innewohnt? Denn auch sie wurden nicht in ihrer psychoemotionalen Entwicklung eingeweiht und getragen, haben nicht den einen Raum selbstbestimmt verlassen können, um mit dem nächsten im Reinen sein zu können und sich kraftvoll darin entfalten zu können.
Ob angeleitet im Familienkreis, oder – wie ich es erfahren durfte – in einem vertrauensvollen Kreis von Frauen: Zeremonien verwandeln und können Heilung in eine verletzte Familiengeschichte bringen, und – von einem größeren Blickwinkel betrachtet – die Ahnenreihen reinigen und heilen. So wie wir bei unseren ersten Schritten im Leben die Aufmerksamkeit, Bestätigung und Anerkennung unserer Eltern suchen, braucht es auch im späteren Leben unsere mutigen, willensstarke Schritte und Menschen, die diesen „Be-Achtung“ schenken.
Da die gesellschaftlich definierten Schritte in unseren Biografien unterschwellige entwicklungspsychologische Übergänge meist in den Schatten stellen, ist es gerade heute wichtig, Zeremonien zu feiern. Heute, wo wir oftmals unsere Orientierung im Außen, z. B. im Konsum oder im Wettbewerb haben, laden Zeremonien dazu ein, innere Prozesse in den Gruppenprozess zu bringen, und sie im Außen durch Menschen spiegeln zu lassen.
Sowohl Übergangsrituale als auch andere Zeremonien, bilden den metaphorischen Rahmen dafür, seinem natürlichen Rhythmus zu folgen und somit kraftvoll in der Welt zu wirken.   

Magdalena Werner ist diplomierte Erziehungswissenschaftlerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Kinesiologin in Berlin/ Prenzlauer Berg. Gewachsen und einen wesentlichen Einfluss auf ihre Persönlichkeit hatte das Sacred Female Rising Institute (sacredfemalerising.com).
Veranstaltungen in 2021: Energie- und Ritualarbeit im Frauenkreis „Wilde Rosen“ mit monatlich fortlaufenden Treffen.
Infos und Termine unter 0176-34 66 83 50, www.yogini-kinesiologie.com

Art. 202011 - Hermann Häfele
Rituale, Autonomie und den „roten Faden“ zu sich selbst finden ... Hermann Häfele
Rituale und Glauben
Rituale sind laut Definition formelle, wiederholte weltliche oder religiöse Handlungen mit Symbolgehalt. Das geht sogar bis in die Politik: Hier können das ritualisierte (Schein-)Maßnahmen sein, welche nur den Eindruck erwecken, dass etwas geschieht. Die eigentlichen Probleme bleiben in Wirklichkeit ungelöst. Neben weiteren, unter anderem  in Kultur und Heilungskunde, gibt es außerdem effektive und erfolgreiche Rituale in der Psychotherapie, zum Beispiel in Paartherapie oder bei Zwangsstörungen ... Rituale als solches sind zunächst mal weder gut noch schlecht – es kommt darauf an, mit welcher Bedeutung sie aufgeladen werden, wie mit ihnen umgegangen wird und wozu sie dienen sollen. Meistens aber folgen sie einer Erzählung, an die wir glauben oder glauben sollen – und dieser Glaube wird durch die Rituale verstärkt.
Im christlichen Ritual des Abendmahls wird beispielsweise das Brot zum Leib Christi und der Wein zu seinem Blut. Im Mittelalter hielt der Priester in der stets auf lateinisch gehaltenen Messe das Stück Brot hoch und sagte dazu „Hoc est corpus meum“ – also „Dies ist mein Leib“. Die einfachen Menschen, die natürlich kein Latein konnten, waren da schon sehr erstaunt. Eine Hypothese besagt, dass so das Wort „Hokuspokus“ entstand(!) – jener Zauberspruch, mit dem dann in späteren Märchen und Geschichten zum Beispiel Frösche in Prinzen verwandelt werden konnten. Natürlich haben auch Muslime, Hindus und Buddhisten ihre eigenen Erzählungen mit begleitenden Ritualen.

Autonomie
Autonomie ist ein Zustand der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, sie bedeutet Entscheidungs- und Handlungsfreiheit und die Fähigkeit, ja geradezu die Angewohnheit, Dinge immer wieder zu hinterfragen. Es ist ein Verdienst der Aufklärung, Autonomie geradezu postuliert zu haben, Kants„ Sapere aude“ – also „Wage es, selbst zu denken“ bringt das auf den Punkt.
Etwas pragmatisch und vielleicht überraschend sehe ich das auch als Prozess des Erwachsenwerdens an, was nicht biologisch gemeint ist. Erwachsen werden (wollen) und damit nach Autonomie zu streben, ist ziemlich unabhängig vom Alter. Die meisten unserer Probleme rühren daher, dass wir es eben (noch) nicht sind oder werden wollen oder bisher nicht vermochten.
Wenn wir aber diesen Weg einschlagen, Richtung Erwachsensein und Autonomie, wenn wir also zunehmend die Dinge, an die wir glauben, infrage stellen, wie auch die bisher in unserem Leben kennengelernten Rituale, was bleibt dann noch? Gibt es dann einen lauten Knall und wir sind plötzlich „erleuchtet“, weil wir uns von allem „gelöst“ haben? Das ist wohl kaum der Fall.

Kurzausflug in die Spiritualität
Die Psychologin Rebecca Rosing hat mal einen großartigen Spruch geprägt: „Was nutzt Erleuchtung, wenn das Klopapier alle ist?“.
Wenn wir verstanden haben, dass all dieser Glauben und die meisten dieser Rituale nichts weiter als Erzählungen sind, wird „unsere Welt“ immer noch vorhanden sein, inklusive aller weltlichen Themen; und sei es, dass wir Klopapier nachkaufen müssen. Doch wir können eine grundsätzliche heitere Offenheit in unser Leben hineinlassen. Wir müssen uns nicht mehr von allen Dramen davontragen lassen, weder von denen unserer Umwelt, noch von unseren eigenen.
Nur aus der Autonomie, beziehungsweise etwas pragmatischer formuliert, aus einer Erwachsenenposition heraus können wir uns überhaupt einer Spiritualität gegenüber öffnen. Was immer das für uns jeweils bedeutet. Inspiriert durch Willigis Jäger denke ich selbst in diesem Zusammenhang sehr gerne an eine kleine Welle in einem großen Ozean – innerhalb dieser Welle „er-fahre“ ich mich als Bewusstsein, das sich selbst entdeckt, und ich bin gleichzeitig das Meer. Und Rupert Spira sagt dazu das Folgende: Das eine ist der Bildschirm – die Realität, das „grenzenlose Bewusstsein“ – und das andere ist das, was ich sehe und nur für real halte, nämlich die Bilder und Dramen, die sich im oder auf dem Bildschirm wie ein Film zeigen – erzeugt von meinen eigenen Gedanken, Emotionen, also eben von meinem „abgetrennten Ich“.

Was bedeutet das ganz praktisch für unseren Alltag?
Meist entstehen die Schwierigkeiten dann, wenn Gedanken entstehen (die wir glauben) und die dann ihrerseits Emotionen auslösen (die Dramen auf dem Bildschirm). Ganz schön viel Stress, was unser eingebildetes ICH da ständig „produziert“! Damit soll natürlich keinesfalls bestritten werden, dass es überaus herausfordernde, schmerzvolle Situationen gibt. Und auch nicht, dass die meisten von uns mit einem Rucksack voller Programmierungen, Muster und Traumata herumlaufen, die es nicht so leicht machen, den Schleier zu lüften. Es geht hier ausschließlich darum, wie wir damit umgehen: Halten wir uns daran fest, dass wir irgendetwas glauben? Sind wir im Widerstand gegen das, was uns gerade passiert (etwa Leid und Schmerz) und versuchen, das mittels eines Rituals vermeiden oder „wegmachen“ wollen? Oder können wir es zulassen? Als unsere Erfahrung innerhalb eines grenzenlosen Bewusstseins?

Der rote Faden zu uns selbst
Wenn diese Option die ganze Zeit da ist, warum nutzen wir sie nicht? Es ist, wie bereits erwähnt, als ob eben dieser dichte Schleier über uns läge – wie zahlreiche Decken übereinander. Unser Geist ist sehr gut im Analysieren und im Erfinden von Erzählungen und, ja, er liebt es auch, nach Lösungen für selbst erzeugte Probleme zu suchen. Doch wenn wir wirklich einen roten Faden zu uns selbst finden wollen, sollten wir diese Decken eine nach der anderen ansehen, verstehen und dann entfernen bzw. sich entfernen lassen – wir können auch sagen, wir sollten uns selbst „ent-DECKEN“!
Diese Selbsterforschung kann dann übrigens auch Freude und Leichtigkeit (zurück)bringen. Es empfiehlt sich, sie aus der Position eines wertschätzenden Beobachters zu betreiben, sozusagen als unser innerer bester Freund bzw. beste Freundin – wohl wissend, dass auch das nur eine gedankliche Krücke ist.
Und so kommen wir wieder zu den Ritualen zurück, die auch viel mit Gewohnheiten zu tun haben. Sie sind dann sehr wohl „SINN-voll“: Wir können – gleichsam als erstes Ritual – anfangen, uns selbst „erwachsene“ Fragen zu stellen: Was denke und fühle ich gerade? Das ist ein Teil von mir, doch ich bin weder meine Gedanken noch meine Emotionen.
Dann: Was für eine Art von Ritual ist meinem Leben zugewandt und würde mir guttun? Das kann etwas ganz einfaches sein – womöglich ein regelmäßiges Journal zu schreiben? Irgendeine Art von Meditation? Oder regelmäßig „einfach nur“ zehn Minuten auf dem Sessel zuhause zu sitzen und einfach mal wirklich nichts zu tun – das ist „heraus-fordernder“ als man so denkt! Welche Art von Ritual ist dazu geeignet, mich darin zu unterstützen, den roten Faden meines Lebensweges und zu meiner Lebensfreude zu finden? Auf diese Weise bekommen Rituale eine ganz persönliche Bedeutung. So können sie wirklich eine kraftvolle Unterstützung für uns sein – Für uns als heiter-offene „Ent-decker“ unseres Lebens!

Hermann Häfele unterstützt Menschen und Unternehmen, den „Roten Faden“ zu finden – zur Positionierung, zur Krisenüberwindung und zur Weiterentwicklung in allen Lebens- und Aktivitätsfeldern.
Weitere Infos auf seinen Webpräsenzen: www.roter-faden-coaching.de und www.roter-faden-consulting.de

Art. 202011 - Ute Franzmann
Die Würde fängt heute bei dir an ... von Ute Franzmann
Würde: ein kleines Wort mit großer Wirkung. Wann hast du in letzter Zeit bewusst deine Würde gespürt? Probiere es jetzt aus und spüre hinein. Wie fühlt sich deine Würde an? Wie verändert sich deine Körperhaltung? Meist richten wir uns bei dem Gedanken an Würde schon innerlich und äußerlich auf. Wir machen uns gerade, spüren unser Rückgrat und sind präsent.
Wie oft im Alltag gehst du würdig mit dir um? Es beginnt mit der Achtung der eigenen Person und den eigenen Bedürfnissen. Passiert es dir oft, dass du dich und dein Leben auf später verschiebst, immer und immer wieder; dass du gar nicht dein Leben lebst, sondern immer etwas Wichtigeres im Außen zu tun hast? Aber sag, was ist wichtiger als du selbst in deinem Leben? Ich meine nicht, dass du anderen gegenüber rücksichtslos und egoistisch sein solltest, sondern, dass du dich um DEIN Leben kümmern musst. Wenn nicht DU es tust, wer dann?

Beginne gleich heute damit, in Form eines kleinen Rituals, welches du täglich wiederholen kannst. Es muss nicht länger als 10 Minuten dauern. Wenn du schon meditierst, kannst du es in deine Meditation mit einbauen.

Wenn du noch keine Erfahrungen mit der Meditation hast, ist es sinnvoll dir eine ruhige Zeit am Tage auszusuchen, wo du nicht gestört wirst. Es können die frühen Morgenstunden sein oder der frühe oder späte Abend – probiere dich aus. Du solltest das Telefon, die Türklingel und weitere Störquellen ausstellen. Wenn du magst, kannst du eine Kerze anzünden und etwas leise Musik im Hintergrund laufen lassen. Der Platz an dem du meditieren möchtest, sollte dir gut gefallen, und du solltest dich dort wohlfühlen. Mache es dir mit einer Decke gemütlich – entweder in einem Sessel oder auf einem Meditationskissen, je nach Vorliebe. Das Wichtigste ist, dass du dich dort gut entspannen kannst und es bequem für dich ist. Wenn du immer an demselben Ort meditierst, baut sich mit der Zeit Dein eigenes Energiefeld auf und es wird dir immer leichter fallen, in einen meditativen Zustand zu gelangen. Wenn du soweit bist, beginne mit der Meditation.

Versuche zunächst einmal, dich auf deinen Atem zu konzentrieren – locker und entspannt. Manchmal hilft es, bis zehn zu zählen, und immer, wenn ein Gedanke dazwischenkommt, beginnst du wieder bei eins. Durch diese Konzentrationsübung wird dein Geist energetisch gereinigt. Dann sagst du dir innerlich: „Ich bin würdig“ – solange, bis du es fühlen kannst. Dann werde still und richte Deine Aufmerksamkeit nach innen. So kann sich zeigen, was wirklich gesehen werden will. Du beobachtest dich wohlwollend und ohne Bewertung.

Beim Ritual wird gebündelte Energie auf ein Ziel gerichtet, dadurch geben wir der Energie eine Ausrichtung. Bei dieser Meditation richtest du deine Energie auf deine Würde. Alles, was Energie bekommt, wächst – die Energie ist neutral.
Des Weiteren wirkt das kosmische Gesetz der Analogie, welches besagt: „Wie innen, so außen“. Meint, je mehr du in deiner Würde bist, desto mehr Würde wird dir dein Umfeld spiegeln.

Würde ist kein Luxus, sondern ein Geburtsrecht. Alles andere ist Illusion. Zum Beispiel, wenn du meinst, es nicht verdient zu haben, oder, dass du klein und schwach bist. Würde kannst du empfinden mit vollem oder mit leerem Bankkonto. Es ist eine Haltung, eine innere Einstellung. So manch materiell armer Mensch ist in seiner Ausstrahlung würdiger, als der ein oder andere Reiche. Ob es leichter ist, Würde zu leben mit Geld oder ohne Geld, sei dahin gestellt.

Das Gute an der Würde ist: Sobald du in deiner Würde bist, empfindest du auch Würde für dein Gegenüber, unabhängig, ob ihr einer Meinung seid oder nicht. Versuche es mal: Nehme deine Größe an, setze dir deinen Hut der Würde auf und gehe durch die Straßen. Beobachte, wie ihr miteinander umgeht.
Den Anderen in seiner Andersartigkeit zu respektieren und mehrere Meinungen aushalten zu können, wäre ein hilfreicher Schlüssel im menschlichen Miteinander, die Vielfalt als Fülle und nicht als Bedrohung wahrzunehmen.

Ein Lächeln verbindet und kostet nichts ;-)

Ute Franzmann ist examinierte Krankenschwester, Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis.
Mit Hilfe ihrer Medialität unterstützt sie Menschen in Einzelberatungen, Seminaren und Weiterbildungen, das eigene Bewusstsein zu entfalten. Aktuelle Termine und weitere Infos siehe Webseite www.heilpraxis-ute-franzmann.de

Art. 202011 - Johanna Fröhlich Zapata
Für-Sorge: Was wirklich wichtig ist und wie wir nach der Krise Leben wollen ... von Johanna Fröhlich Zapata
Corona hat uns gezeigt, wie essenziell die Leistung der Fürsorge ist. Wie systemrelevant das Betreuen, Pflegen und Füreinander-da-sein immer war und sein wird. Was wollen wir privat aus der Krise, die vor allem eine Fürsorge-Krise darstellt, lernen? Welche Konsequenzen ziehen wir aus der (bis jetzt) fehlenden Wertschätzung eines Bereichs, der unsere Familien und unsere Gesellschaft im wahrsten Wortsinn zusammenhält?

Als Therapeutin für „Frauen, die alles wollen” weiß ich, wie stressig die Fürsorge-Arbeit für viele Frauen ist. Als Medizinanthropologin weiß ich auch: Stress und „mental load“ haben gesundheitliche Konsequenzen.
In aller Konsequenz sichtbar wird das Problem zum Lebensabend, denn Fürsorge-Arbeit führt zu weiblicher Altersarmut. Wer umsonst (haus-)arbeitet und in Teilzeit Kinder erzieht, hat weniger Rentenpunkte angespart.
2016 reichte bei 16 von 100 alleinstehenden Rentnerinnen das Einkommen nicht zum Leben. 2036 wird heute prognostiziert, dass die Quote bei fast 30 % liegt. Insgesamt nimmt die Altersarmut bis dahin um 70 % zu. Paare machen oft den Fehler, in alte Rollenmuster zu fallen. Das kann für alle sehr frustrierend sein. Die Frauen fühlen sich dann hin- und hergerissen, zwischen Beruf und Familie. Der Mann will Zeit mit den Kindern verbringen und die Last der finanziellen Verantwortung nicht allein stemmen müssen.

Care-Arbeit ist Für-Sorge
Fürsorge ist ein umfänglicher Begriff. Er bedeutet „für” jemanden oder im Falle der Selbst-Fürsorge für sich zu sorgen, also Verantwortung zu übernehmen.
Care-Arbeit umfasst im Kontext von Familie und Beziehung somit zum einen die Verantwortung für die „klassische” Hausarbeit, wie Kochen, Putzen, Aufräumen und Oberflächen abwischen.
Zum anderen kommen „unsichtbare Aufgaben” (Mental Load) dazu, wie die Organisation der Geburtstage, das Verschicken der Weihnachtspost und die emotionale Arbeit des Tröstens, des Zuspruchs und der Besprechung möglicher Probleme. Hinzu kommt die porfessionelle Fürsorge (Health Care).

Fürsorge wird gelernt
Als Anthropologin weiß ich, dass wir kulturell geprägt werden. Wie ein Siegel markiert unsere Umgebung Glaubens- und Vorstellungsgrenzen. Es gibt, je nach Geschlecht (in unserer Kultur männlich oder weiblich), bestimmte kulturelle Erwartungen an Männer und an Frauen. Viele Menschen nehmen im Laufe ihres Lebens also „ihre Rolle als Frau“ oder „ihre Rolle als Mann” mit daran geknüpften Aufgaben an. Die Rolle geht dann in Fleisch und Blut über. Frauen sind also nicht einfach fürsorglich, es gibt kein Fürsorge-Gen. Das würde bedeuten, dass Fürsorge in der Natur der Frau läge, Care-Arbeit ihrem Wesen entspräche und Mutterliebe und Empathie allen Mädchen angeboren sei.
Dass Fürsorge als natürlich, also biologisch weiblich deklariert wird, ist Teil des Problems: Die Essentialisierung („Frauen sind so, sich um andere sorgen liegt in ihrem Wesen.”) und Biologisierung („Mutter-Instinkt”) von Frauen hat zur Folge, dass bestimmte Aufgaben geschlechtsspezifisch wie ganz „logisch” verteilt werden. Diese Rollenaufteilungen gelten dann als „normal“. In diesem Zuge werden auch Ungleichbehandlungen und Benachteiligungen normalisiert. Nach Corona wissen wir, wie systemrelevant Fürsorge wirklich ist. Sie steht endlich im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Was uns zusammenhält, gehört ins Zentrum
Fürsorge ist das Zentrum unseres Zusammenlebens. Sie ist eine ganz große wichtige Arbeit, die wertgeschätzt werden muss.
Ich plädiere dafür, dass alle Menschen den Wert der Fürsorge anerkennen – diese Fürsorge-Arbeit leisten und wertschätzen. Wir brauchen eine „Ver-Fürsorglichung“ der Gesellschaft. Wir können uns nicht leisten, die Fürsorglichkeit als unsichtbares Nebengeschäft, das man notfalls auslagern kann, zu reduzieren.

Was können wir tun? Reden und Vertrauen.
Es gilt im Bezug auf Care-Arbeit ganze Aufgaben – Pakete untereinander aufzuteilen. Paare sollten auf Augenhöhe die Verteilung besprechen. Wenn die Frau delegiert, hat sie immer noch die Verantwortung für die Aufgabe und somit für das Resultat.
Gegenseitiges Vertrauen ist das Grundgefühl, dass sich einstellt, wenn beide wissen, dass das Ergebnis im Einklang mit zuvor besprochenen Werten steht.
Vertrauen ergibt sich automatisch, wenn alle sich des Werts der Care-Arbeit bewusst sind und sie gewissenhaft ausführen.
Ich denke, es wäre für alle entspannter, wenn wie unseren Vorlieben und Stärken entsprechend die Aufgaben verteilen, die gemacht werden wollen. So gilt es, die eigenen Handlungsimpulse zu hinterfragen und die Gefühle ernst zu nehmen.
Wenn wir unseren Selbstwert komplett auf eine Rolle reduzieren, gerät dieser schnell ins Wanken.
Es gilt die erlernten Impulse des entweder Versorgen oder Fürsorgen zu hinterfragen, und sich den Gefühlen zu stellen. Diese Gefühle helfen uns, die eigenen Bedürfnisse kennenzulernen. Im Prozess wird gemeinsam eingeübt, diese (oft unbewussten) Bedürfnisse einzuordnen und zu kommunizieren. Wenn eine Haltung verändert wird – und in der Folge mit der Zeit ihr Verhalten, dann hat das vor allem Konseqenzen für die Partnerschaft. Das muss behutsam begleitet werden. Es geht darum, das Bewusstsein zu schärfen und die Kommunikation mit dem Partner und der Familie zu verbessern, damit ein echter Prozess der Wertschätzung von Fürsorge vollzogen werden kann.

Handlungsimpulse wahrnehmen – Gefühle beobachten – innehalten & weitergehen …
Eine Möglichkeit ist die Sichtbarmachung mit dem „Who Cares?-Rechner“, den ich auf meiner Webseite unter www.alltagsfeminismus.de/who-cares anbiete. Hier finden Paare ein Instrument, um sich Ungleichheiten im eigenen Leben bewusst zu machen. Ich habe den Rechner zusammen mit dem Verhaltensbiologen Dr. Florian Ruland und Software-Experten Hannes Zilt entwickelt. Der Rechner kennt den Durchschnitt der geleisteten Arbeit und den Anteil, den Frauen und Männer daran haben. Das Ergebnis schafft Bewusstsein über den tatsächlichen Wert der Arbeit und macht deutlich, was der „Care-Gap“ mit dem eigenen Leben zu tun hat. Hier finden beide eine Grundlage, auf der diese Ungleichheit diskutiert werden kann: Wie wollen WIR zusammenleben?
Nach dem die Zahlen klar sind, schlage ich vor, dass sich beide selbst beobachten und sensibler werden mit dem eigenen Verhalten in der Partnerschaft in Bezug auf Care-Arbeit.
Daran schließt sich der Austausch über Wünsche und Prioritäten organisch an. Der Rechner soll zum Nachdenken anregen und zu Gesprächen untereinander einladen.

Ein Fehler, der oft gemacht wird, ist ein kurzes Strohfeuer der Empörung, um dann wieder in den frustrierenden Alltag zurückzukehren zu den alten Verhaltensmustern.

Ich empfehle eine tiefgreifende Beobachtung der Handlungs- und Denkimpulse, um ein neues Verständnis von sich als Frau oder Mann zu entwickeln, das über die eng gewordenen Rollenklischees hinausgewachsen ist und sich auf das „wirklich Wichtige” konzentriert.

Johanna Fröhlich Zapata ist Expertin für Gender und emotionale Gesundheit, Anthropologin, Medizinanthropologin, Gestalttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Weitere Infos unter www.alltagsfeminismus.de

Art. 202011 - Sebastian Sylla
Ich höre Musik, also bin ich – Eine musikalische Ernährungsfrage ... von Sebastian Sylla
Musik ist aus dem Leben der meisten Menschen nicht wegzudenken. Musik ist allgegenwärtig. Und sie ist außerordentlich vielfältig. Wir können heutzutage alle Musik hören, die jemals komponiert wurde. Von den Gregorianischen Chorälen über javanische Volksmusik bis hin zu dem allerneuesten Chartsong – alles steht uns zur Verfügung. Und üblicherweise sortieren wir all diese verschiedenen Musikstile über unseren Geschmack. Da ist Musik den Lebensmitteln gar nicht so unähnlich – wir nehmen zunächst einmal das zu uns, was uns schmeckt. Und darüber hinaus das, was für unseren Körper gesund ist. Doch wie nehmen wir Musik zu uns? Wenn Lebensmittel Nahrung für den Körper sind und Musik Nahrung für die Seele, hören wir dann genauso achtsam, wie wir essen? Oder konsumieren wir Musik eher nachlässig und beiläufig? Immerhin können wir unsere Ohren vor den Klängen, die uns tagtäglich umgeben, nicht so einfach verschließen wie unseren Mund vor ungenießbarer Nahrung.
Auch wenn es bereits Tausende von Antworten gibt und Sie, liebe Leserin und lieber Leser, wahrscheinlich auch Ihre eigene haben, so möchte ich diese Frage dennoch stellen: Was ist Musik eigentlich?
Die Antworten von heute genügen mir persönlich nicht. Sie werfen Musik in einen großen Topf und machen keine Unterschiede zwischen all den Musikarten, von denen einige so neu sind, dass sie den Philosophen, Dichtern und Musikern, die sich früher schlau über Musik geäußert haben, noch gänzlich unbekannt waren und die Gültigkeit ihres damaligen Kommentars angesichts der heutigen Musiklandschaft infrage stellen. Gleichzeitig sind mir die gängigen Antworten zu fadenscheinig, zu versöhnlich: Musik tut gut. Musik ist wichtig. Das ist gerade so, als würde man sagen: Essen ist gut. Essen ist wichtig. Grundsätzlich stimmt das ja, doch wir wissen mittlerweile: was und wie wir essen, ist wichtig. Der Gesundheit und der Lebensqualität wegen. Bücher und Meinungen zur Ernährung gibt es ja mittlerweile zuhauf. Doch wie steht es um die musikalische „Ernährung“?

Es gibt Antworten auf die Frage „Was ist Musik?“, die heutzutage nahezu in Vergessenheit geraten sind. Diese Antworten stellen Musik in ein ganz anderes Licht.
Sie erfordern ein ganz neues „Hinhören“.
Finden kann man sie vor allem in der Vergangenheit: in den alten Kulturen wie China, Indien, Ägypten oder Griechenland; auch in vielen Naturvölkern. Da lautet die Antwort ganz lapidar: Musik erschafft die Welt.
Die Auffassung war: Das Universum ist aus einem Urklang erschaffen worden, alles ist Schwingung, und jedes Lebewesen, jeder Gegenstand, jeder Planet, ist ein Echo der Urschwingung. Musik, als irdisches Pendant zu dem Urklang – den die alten Chinesen KOSMISCHER TON, die Inder AUM und die Griechen LOGOS (in der Bibel WORT) nannten – besitzt dieselbe Schöpfungskraft wie die Ur-Musik und muss dementsprechend bewusst und gewissenhaft benutzt werden, damit die ihr innewohnende „göttliche Ordnung“ sich auf Erden als „irdische Ordnung“ manifestiert. Um dies zu gewährleisten, unterhielten beispielsweise die alten Chinesen ein Musikministerium, welches das höchste politische Amt und direkt dem Kaiser unterstellt war. Denn man war überzeugt, dass die Art und Weise der Musik Einfluss nimmt auf alle Belange des Landes, ja des Universums: Politik, Wirtschaft, Kultur, Moral, aber auch die Natur an sich, sogar die Materie – alle Erscheinungen, die sich auf Erden auf die eine oder andere Art manifestiert haben, sind eine Folge der Musik, die davor erklungen ist und in der gewissermaßen der Code, die Information zur In-Form-Bringung enthalten war – als Schwingung. Musik war demnach weitaus mehr als nur Geschmackssache. Sie war ein Mittel, um die Welt bewusst zu gestalten.
Entgegen der heutigen Meinung, dass die Gesellschaft eine bestimmte Art von Musik hervorbringt, war man früher genau gegenteiliger Ansicht: Musik bringt die Art der Gesellschaft hervor.

Der daraus folgenden Maxime „Wie in der Musik, so im Leben“ bin ich über zehn Jahre lang forschend, recherchierend und ausübend nachgegangen, um herauszufinden, ob da etwas dran ist, und vor allem, was es für unsere heutige Zeit bedeutet, falls die Weisen alter Kulturen, wie Konfuzius oder Platon, recht hatten, wenn sie mahnten: Seid achtsam im Umgang mit Musik!
Tatsächlich bin ich auf einige erstaunliche Zusammenhänge gestoßen, die hier auszuführen der Platz beiweitem nicht ausreicht (ich habe daher ein umfangreiches, allerdings noch unveröffentlichtes Buch zu diesem Thema verfasst). An dieser Stelle muss es genügen, den Leser neugierig zu machen, mit herausfordernden Sätzen wie diesen:
Die Musik der großen abendländischen Komponisten hatte (und hat immer noch) einen erheblichen Einfluss auf die Bewusstwerdung der Menschheit, indem sie bestimmte Aspekte der Menschwerdung zum Vorschein bringt (z. B.
Beethoven, dessen Musik die Fähigkeit zu Mitgefühl stärkt).
Das römische Imperium ging an seinem nachlässigen, geradezu stümperhaften Umgang mit Musik zugrunde (indem sie u. a. das Melodiöse verloren).
Die derzeitige politische Lage in vielen Ländern dieser Erde, die sich durch postmoderne Diskriminierung und Paranoia auszeichnet, hat ihren Ursprung in einem seit etwa 30 Jahren immer populärer gewordenen Musikstil (na, welcher wohl?).
Mit bestimmter Musik lässt sich Ordnung in den Alltag bringen, lassen sich Beziehungen stärken, lässt es sich leichter lernen oder diskutieren – je nachdem, welcher der Musik innewohnende Code beim Hören dechiffriert wird.
Doch das Beste, das Magischste ist: Wir können lernen, beim eigenen Musizieren den gewünschten Code in die Töne „einzuprogrammieren“.
Wir können lernen und uns bewusst machen, wie wir Musik, ob hörend oder ausübend, unseren Idealen und Vorstellungen entsprechend nutzen. Daher habe ich meine Arbeit (Buch, Musikunterricht und musikbasiertes Life Coaching) rund um diesen Aspekt der Musik auch so genannt: Carpe Musicam! (Analog zu dem von dem römischen Dichter Horaz stammenden Sinnspruch „Carpe Diem“).
Auch wenn ich die Leserin oder den Leser hier mit vielen Fragen, einem erstaunten oder empörten Gesicht, wenigstens jedoch mit einer Prise Neugier zurücklassen muss, eine Schlussfolgerung meiner Beobachtungen und Recherchen möchte ich ihr oder ihm nicht vorenthalten: Viele unser heutigen Probleme, seien sie globale oder individuelle, sind in Wirklichkeit musikalische. In diesem Sinne: Nutze, pflücke und genieße die Musik!

Sebastian Reinhold Sylla ist diplomierter Musiker (Gitarre, Gesang) und Pädagoge, ausgebildeter psychologischer Lebensberater und zertifizierter Trainer der Heartfulness Meditation. Er war Mitgründer der Tagtigall Musikschule Neukölln und ist Entwickler der Carpe Musicam Methode, die sich auf die Musikphilosophien alter Kulturen beruft. Sein Buch „Carpe Musicam - Wie Musik die Welt erschafft“ erzählt ausführlich über die heutzutage vergessene Schöpfungskraft der Musik und möchte zu einem bewussteren Umgang mit Musik anregen. Neben seiner Tätigkeit als Musiklehrer und Lebensberater gibt er Konzerte (solo und mit Band). www.carpemusicam.com


Art. 202011 - Roswitha Stark
Rituale im Jahreskreis ... von Roswitha Stark
Ehren wir Mutter Erde, gesunden die Menschen und heilt die Natur!
Unsere Vorfahren wussten um die Bedeutung von Ritualen, um die Kraft achtsamer Handlungen und um die Wirkung von bestimmten rituellen Worten und Texten. In solchen Augenblicken fühlen sich die Menschen auch heute mehr denn je miteinander verbunden und generieren eine heilsame Energie, die sie eins werden lässt mit der Natur. Dadurch kann die Erde und ihre Geschöpfe gesunden. Im „Gegenzug“ lässt dies uns Menschen an Körper, Seele und Geist heil werden. An den 8 essenziellen Stationen des Jahreskreises lohnt es sich immer wieder innezuhalten und uns an einige wertvolle Werkzeuge zu erinnern, um kosmische Informationen mit der Energie von Mutter Erde zu verbinden und so zum Gemeinwohl und zur Heilung all dessen, was ist, beizutragen.
Gerade in den aktuellen turbulenten Geschehnissen lohnt es sich immer auch das Positive zu sehen. Viele mussten sich in den letzten Monaten an den Aspekt des Rückzugs gewöhnen. Wir konnten uns plötzlich nicht mehr so viel ablenken wie vorher, viele mussten in ihren 4 Wänden bleiben und sich gezwungenermaßen mehr mit sich selbst beschäftigen.
Für viele Menschen eine ungewohnte Sache. Aber auch die Natur zieht sich in ihren natürlichen Zyklen im Herbst/Winter in sich selbst zurück, um sich zu regenerieren, neue Kräfte zu sammeln und sich in aller Ruhe für die aktive ausströmende Zeit im Frühjahr und Sommer vorzubereiten. Dann ist sie stark und kann uns wie jedes Jahr mit ihren Geschenken erfreuen und nähren. Manchmal brauchen Natur, Erde und alle Geschöpfe auf ihr eben eine Atempause.

Der Kreislauf des Jahres als Symbol für das Leben
Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Feste, die meist zu Ehren Gottes oder auch mehrerer Götter und Göttinnen gefeiert wurden und werden. In unseren Breitengraden stellt man fest, dass die traditionellen Riten und Feste sehr stark an den Jahreszeiten orientiert sind, was dagegen zum Beispiel bei den Regenwaldvölkern, wo das Klima im Jahresverlauf kaum schwankt, nicht so entscheidend ist. Hierzulande orientieren sich die Menschen entweder am kirchlich-christlichen Rhythmus mit Festen wie Ostern, Pfingsten, Maria Himmelfahrt usw. oder an den Traditionen unserer keltischen und germanischen Vorfahren, die vor allem in spirituellen Kreisen sehr beliebt sind, weil sie so naturverbunden sind. Hier heißt dann zum Beispiel Lichtmess Imbolc und Allerseelen Samhain. Schon diese alten Namen tragen das Flair und die Kraft der Mutter Erde in sich. Wenn man die Rituale der Kirche und der schamanischen Tradition vergleicht, wird man feststellen, dass sich diese gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. In der Kirche räuchert man Weihrauch, der auch in alternativen Kreisen sehr beliebt ist, um Schutz und Segen herzustellen. In beiden Traditionen wird schön dekoriert und der Raum, an dem die Zeremonie stattfindet, achtsam betreten. Besondere Worte werden vorgetragen, die schon dadurch an Kraft gewinnen, dass man sie so sorgsam und bewusst ausspricht und mit Körpergesten oder kultischen Handlungen verbindet.

Die Menschen fühlen sich stärker miteinander verbunden.
Keiner ist während eines Rituals mehr alleine, und aus der Gruppe generiert sich eine große Kraft, die Veränderungen vollziehen kann. Welche Veränderungen das sind, hängt natürlich von der Intention ab. Wenn man zum Beispiel das Ziel hat, der Natur zu helfen, gesünder zu werden, dann geht das nur zusammen mit der Natur, denn wir sind nicht nur ein Teil von ihr, wir sind vielmehr die Natur selbst. Getrennt von der Natur wird eine Gesundung an Körper, Seele und Geist wohl nicht gelingen. Wir brauchen wieder einen Naturrhythmus, und müssen wieder im Einklang mit ihm leben.

Der schnelle Wandel ist das einzig Sichere
Rituale können uns bitter notwendige Auszeiten bieten, sei es nun der sonntägliche Gang in die Kirche oder der Ausflug zum Kraftplatz, an dem ein Schamane einen Steinkreis aufbaut, oder einfach das bewusste spürende Verweilen im Wald oder an einer Quelle. Wir nehmen uns aus dem Alltag heraus und treffen Gleichgesinnte, die so wie wir vorhaben, etwas zum Gemeinwohl beizutragen. Die Stationen im Jahreskreis sind eine gute Gelegenheit, sich selbst zu stärken und Mutter Erde etwas zurückzugeben, die uns ja alle nährt mit ihren wunderbaren Schätzen. Oft sind wir so in unseren Alltagsgedanken und Arbeitssorgen gefangen, dass uns die Dankbarkeit für die Schätze dieses Universums abhanden gekommen ist: die Freude an einem Apfel, der Nahrung und Liebe gleichzeitig ist, oder das Staunen über den Mond und die Sterne am Himmel. So wie das Herz, unser innerstes Körper- und Seelenzentrum, uns im Rhythmus mit uns selbst hält, so bringen uns regelmäßig vollzogene Rituale in den Einklang mit dem Leben selbst. Wenn man sich darauf einlässt, spürt man einfach, welch unglaubliche Kraft solchen Gelegenheiten entspringt.

Traditionelle Rituale mit modernem Quantenbewusstsein vereint
Aus modernen ganzheitlichen Methoden wie dem Familienstellen wissen wir, wie stark wir von den Ahnen und deren Glaubensmustern geprägt und beeinflusst werden. Das gilt früher wie heute. Die Stationen des Jahreskreises sind eigentlich archetypische Stellvertreter für die Gesetze des Lebens und dessen Wandlungsphasen, zu denen die Geburt und das Aufwachsen genauso gehören wie das greise Alter, das Sterben und der Tod. In allen Dingen der Natur zeigen sich diese Gesetze, denen wir uns niemals entziehen können, so gerne wir dies oft täten. Die moderne Physik hat sich damit auseinandergesetzt, wie das Bewusstsein, vor allem unsere Gedanken und Gefühle, die nichts anderes als Frequenzen und Schwingungen sind, unsere Realitäten, unser „Schicksal“ beeinflussen.
Die Alten wussten dies ebenfalls, auch wenn wir das jetzt nicht mehr wissen. Sie wussten um die Kraft der Achtsamkeit in den Handlungen und um die Wirkung von bestimmten Silben und Worten, die sie ja nicht ohne Grund zu magischen Zwecken einsetzten. Heute ist uns klar, dass Wasser, auch das Zellwasser, Gedanken, Worte und Handlungen als Information abspeichert und physiologische Abläufe im Körper beeinflussen kann – positiv wie negativ. Wir wählen die Handlungen, Worte und Werkzeuge im Ritual so aus, dass harmonisch schwingende Information erzeugt wird, die allen Beteiligten in dieser schönen Welt zugutekommt. Auch bestimmte Geometrien und Bilder können dabei helfen, kosmische Informationen des Himmels „herunterzuladen“ und mit der Energie der Mutter Erde verbinden. Das kann uns Menschen bis in eine tiefe Zell- und DNA-Ebene hinein sehr guttun, und zwar lange spürbar über das eigentliche Ritual hinaus.

Roswitha Stark (geb. 1959) ist Heilpraktikerin, Coach und Expertin für energetisches Heilen. Viele Jahre arbeitete sie als klassische Homöopathin, bevor sie die Kraft von Symbolen entdeckte und herausfand, dass die Zeichen eine eigene energetische Sprache sprechen und als Heilmittel oft noch kraftvoller wirken als die klassischen Mittel.

Buchtipp: Roswitha Stark: Rituale im Jahreskreis. Harmonisierung und Selbstheilung im Rhythmus der Natur. Mit kraftvollen Symbolen und Seelenmeditationen. Mankau Verlag, 207 Seiten, ISBN 978-3-86374-573-8, 15,95 Euro

Art. 201011 - Gunnar Kaiser
Corona und die globale Beschleunigungskrise ... Gunnar Kaiser
Warum lässt sich der Mensch seine Freiheit immer wieder nehmen, warum oft so bereitwillig? warum wählt er sogar diejenigen, die ankündigen, ihm seine Freiheit zu nehmen, immer wieder, trotz mehrfacher schlechter Erfahrungen in der Vergangenheit?
Nun, um uns unsere Freiheit zu nehmen, muss man uns etwas anderes dafür anbieten, aber wir müssen das, was uns da angeboten wird, auch wirklich wollen. Wir müssen es schätzen. Wir müssen dem einen hohen Wert zusprechen, und dieser muss eben höher sein, als unsere eigene persönliche oder eben die gesellschaftliche Freiheit. Und wenn uns doch nichts wertvoller erscheint als das, die Freiheit, dann muss man es uns eben etwas schmackhaft machen. Es ist wie in der Werbung – man muss uns das Produkt als etwas verkaufen, was wir schon immer haben wollten, was wir immer schon begehrt haben, um es uns dann eben auch verkaufen zu können. Man muss die Begierde in uns notfalls wecken, damit wir unser Geld hergeben und das Produkt, für das wir dann unsere Freiheiten, jetzt in dem Sinne, so oft und so bereitwillig eintauschen, ist im Politischen meistens die Sicherheit.

Sicherheit ist unser anderes Grundbedürfnis. Also muss uns vorgegaukelt werden, die ganze viele Freiheit würde nur zu Bedrohungen führen. Man müsse also Verbote machen, man müsse Freiheiten einschränken, Möglichkeiten abgeben. Dann würden „die da oben“ schon dafür sorgen, dass wieder mehr Ordnung und Sicherheit herrscht. Man legt uns Ketten an, um uns zu steuern und um uns zu beherrschen. Um uns die Ketten schmackhaft zu machen, erzählt man uns, dass eben zu viel Freiheit unser Unglück wäre. Zuviel Freiheit ist schädlich. Sie macht einsam, sie macht egoistisch und krank.
Die Freiheit des einen sei die Ursache für die Krankheit des anderen. Aber niemand will ja egoistisch genannt werden und rücksichtslos, und so gewöhnen wir uns eben an unsere Ketten, mal mehr, mal weniger murrend, und werden zu glücklichen Sklaven.
Früher hat man sich noch gefragt, wie sichern wir, dass der Staat, der Leviathan, nicht zu übermächtig wird und uns unsere Freiheit nehmen würde, uns unterdrückt? Aber diese Fragen stellen wir angesichts globaler Bedrohungen heute nicht mehr so sehr. Heute fragen wir uns eher, wie kann uns der Staat beschützen, wie kann uns der Staat ein glückliches Leben ermöglichen, wie kann er uns überhaupt etwas Gutes tun, wie kann er für unser Wohlbefinden da sein? Kann der Staat verhindern, dass wir zum Beispiel krank werden, kann er uns sogar zu besseren Menschen machen? Das sind die heutigen Fragen. Und deswegen sind die „Oberhäupter“ des Staates heute keine einfachen Herrscher mehr und Könige und Kaiser. Sie sind zu Führern und Erziehern und Lehrern und Ärzten und Pflegern geworden, nicht mehr einfach nur Staatslenker. Sie führen uns, wie Schüler oder wie Haustiere, und unsere ganze Existenz ist zu ihrer Angelegenheit geworden. Sie meinen, uns zähmen zu müssen und zu isolieren, zu vereinzeln – zu unserem Schutz natürlich, ja und dem der Risikogruppen freilich. Sie müssen uns maßregeln, ein verbindliches Maß auferlegen – Regeln der sozialen Distanz, Maßnahmen erfinden, uns Masken aufbinden und uns durch Impfungen immun machen gegen „gefährliche Erreger“ da draußen. Und manche von uns meinen, ja man muss uns zähmen, aber es müssten halt nur mal die Richtigen machen. Wir brauchen unseren Käfig, weil wir sonst nicht wüssten, wo wir etwas zu essen herkriegen sollten, wenn wir aus dem Käfig ausbrechen würden, oder weil wir sonst krank werden würden.

Ich glaube, dass der Mensch glücklicher und auf bereichernde Art glücklicher ist, wenn er das Gefühl hat, sein „eigener Herr“ zu sein, hat C. S. Lewis einmal gesagt.

Ja, aber kann der Mensch dieses Gefühl haben, dieses bereichernde Glück, wenn ihm bis ins Kleinste gesagt wird, wie er sich zu verhalten hat? Kann der Mensch sein eigener Herr sein, kann er fühlen, dass er sich selbst bestimmt, wenn der Staat sich zu seinem Erzieher und Pfleger aufschwingt, wenn der Despotismus des Staates, wie Tocqueville schon 1831 vorausgesagt hat, die Menschen erniedrigt, ohne sie zu quälen?
In diesem Staat stützt die Regierung ihren Anspruch, für uns zu planen und für uns zu sorgen, auf die Legitimation durch die Wissenschaft. Die hat noch Autorität. Die Wissenschaft weiß, was wir wollen und was wir brauchen. Die wissen schon, wie wir gesund bleiben und dem Tod entgehen und der Krankheit entgehen können. Die Wissenschaft weiß, wie wir bemuttert werden wollen. Aber ist diese Wissenschaft nicht zu dem Opium des Volkes geworden, das Marx in der Religion gesehen hat?

Tja, die Verherrlichung der Wissenschaft, auf die die Menschen heute ihre Hoffnung legen, die bedeutet, wie es C. S. Lewis auch gesagt hat, dass sich die Regierungen heutzutage mehr und mehr auf den Rat von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen verlassen müssen, bis sie eben die eigentliche Macht dann an sogenannte Spezialisten oder Experten abgegeben haben. In der Technokratie endet das dann. Und dort entscheiden die Sachzwänge, nämlich der Technik, und der offiziellen Wissenschaft über das Handeln der Regierung, was getan werden kann: wie Regeln zum sozialen Verhalten, Überwachungen durch Drohnen, Tracing-Apps, Zensur von nicht offiziellen Informationen, Zwangsimpfungen, Immunitätsnachweise und so weiter.

Im Namen der Wissenschaft zu handeln, ja, das ist das, was die Regierungen jetzt als Vorgabe haben. Aber das ist nur eine weitere Art der Legitimierung von Macht. Heute ist es eben nicht mehr Gott, von dem die Herrscher ihre Macht ableiten, auch nicht mehr das Volk, sondern eben die Wissenschaft.
Früher war es die Magie, die uns unsere Ängste nehmen sollte vor dem Leben, dann die Religion ... heute die Wissenschaft. So schleicht sich die Tyrannei ein. C. S. Lewis schreibt: Die echten Wissenschaftler mögen vielleicht nicht viel von der Wissenschaft der Tyrannen halten, von Hitlers Rassentheorie oder Stalins Biologie hielten sie auch nicht viel. Aber die kann man ja mundtot machen.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten ging man vielerlei Wege, um uns unsere Ketten schmackhaft zu machen und unseren Käfig zu vergolden: die Angst vor dem Terrorismus, vor Extremismus, vor der Kriminalität, die Angst vor dem Klimawandel, die Angst vor dem Kapitalismus. Und nun eben, obwohl schon in den vergangenen Jahren immer mal wieder ausprobiert, aber nun in ganzer Stärke kommend – eben mit ganzer Macht – die Angst vor Corona, die Angst vor der Pandemie, vor der Seuche, vor dem Killervirus, dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems, die tief sitzende allgemeine menschliche Angst vor Krankheit und Tod.
Und es hat funktioniert. Dem Menschen ist Sicherheit eben wichtiger als Wahrheit, als Freiheit, wenn er denkt und das Gefühl hat, bedroht zu werden, dann ist auch Essen dem Hungrigen wichtiger als Freiheit. Das Resultat ist ein Weltwohlfahrtsstaat, ein für alles zuständiger staatsübergreifender technokratischer Staat, der in einer nie geahnten Geschwindigkeit global für neue Verhältnisse sorgt.
Das ist zum einen wie früher. Ja, dass kennt man: Vertraut diesem Magier, der kann uns vor der Dürre retten. Gebt alle Macht dem Heerführer, der uns vor den Barbaren schützen kann. Gebt alle Macht den Priestern der Kirche, die uns dann eben vor der Hölle retten können. Lassen wir uns von ihnen in Ketten legen und die Augen verbinden, wenn sie uns nur heilen, wenn sie uns nur schützen. Aber wer garantiert uns diesmal, dass unsere Herren und Herrinnen das Versprechen, das uns dazu gebracht hat, uns an sie zu verkaufen, auch halten können oder überhaupt wollen.
Wenn einige Menschen das Geschick der Übrigen, tja sogar der ganzen Menschheit, in die Hand nehmen wollen, dann werden das auch nur Menschen sein. Und keiner von ihnen wird vollkommen sein – die meisten nicht einmal besonders gutmütig oder gute Menschen, sondern manche machtgierig und grausam und moralisch böse. Und je vollständiger wir uns vereinnahmen lassen, desto mehr Macht werden Sie auch über uns ausüben. Warum sollte das diesmal bei dieser neuen Bedrohung und der immer gleichen Lösung – mehr staatliche Kontrolle, mehr Eingriffe – anders sein? Wie soll ein Volk überhaupt noch darüber demokratisch entscheiden können, über etwas, was ihren Horizont völlig übersteigt, weil es ja „die Sache offizieller Experten“ ist und nicht mehr res publica, oder über etwas, was dringend verordnet werden muss, weil Gefahr im Verzug ist? Und überhaupt: Wie sollen wir – und das hat schon Tocqueville gefragt damals – wie sollen Menschen, die der Gewohnheit, sich selbst zu regieren, vollständig entsagt haben, imstande sein können, diejenigen gut auszuwählen, die sie regieren sollen? Die paternalistische Expertenherrschaft durch Verordnung, die gewöhnt auf lange Sicht den Menschen die Fähigkeit ab, die er benötigt, um ein Demokrat zu sein – nämlich sich selbst regieren zu können.

Ja, wie klingen zum Beispiel diese Worte von Alexis de Tocqueville aus „Über die Demokratie in Amerika“ im ersten Corona-Jahr 2020: „So bereitet der Souverän, nachdem er jeden einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und stärksten Seelen zu durchdringen vermögen, wollen sie die Menge hinter sich lassen; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, er steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung.“
Ja, diese Worte sind mehr als 200 Jahre alt. Sie sind nicht neu und doch aktueller als je zuvor.

UND: Wenn mal wieder jemand euch eure Kritik an den Corona-Maßnahmen, oder eure Bedenken an ihre Angemessenheit, und eure Zweifel an ihrer Alternativlosigkeit, der „behaupteten“ Alternativlosigkeit, wenn er diese Kritik als überzogen und hysterisch abtut, weil der Staat euch doch nicht tyrannisiert und verstört und doch nur unser Bestes will, dann könnt ihr mit Tocqueville antworten: „Ja, genau das ist ja das Problem. Er tyrannisiert nicht. Er entkräftet, er schwächt, er verdummt und bringt uns schließlich dahin, dass wir nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere sind.“ Aber, wie gesagt, dass ist eigentlich nichts Neues.

Auszug (gekürzt) aus dem Video, veröffentlicht im Juli 2020 in den Online-Kanälen YouTube und Telegram mit freudlicher Genehmigung von Gunnar Kaiser. Das gesamte Video können Sie unter www.gunnarkaiser.de/videos oder dirket auf YouTube unter: www.youtube.com/watch?v=Q9fFT_f4qus ansehen. Ebenso können Sie auf seinen Webpräsenzen viele weitere Videos mit hoch interessanten Inhalten sehen. Weitere Infos unter www.gunnarkaiser.de

Buchtipp: Gunnar Kaiser: Unter der Haut, Roman, gebundene 2. Ausgabe März 2018 im Berlin Verlag, 528 Seiten, erhältlich auch als Taschenbuch, oder Audibel / Hörbuch, gelesen von Julian Mehne


Art. 202011 - Steffen Zöhl
Der Tränenstein Eine therapeutische Geschichte von Steffen Zöhl
Eines Tages fand Simon einen Stein – mitten auf der Wiese neben seinem Haus. Der Stein schimmerte in vielen Farben. Er gefiel ihm, und Simon nahm ihn mit. Vielleicht könnte er ihn Kiana schenken, um ihr nochmals zu zeigen, wie sehr er sie mochte. Also verpackte er den Stein und brachte ihn zu Kiana. Er liebte Kiana schon lange und hatte ihr das schon einige Male gestanden. Sie hatte sich meist zögerlich gezeigt. Mit dem funkelnden Stein wollte er nun ihr Herz gewinnen. Als er zu ihr kam, sah er sie – und ein anderer Mann hielt ihre Hand. Sie erschraken beide und Simon ging mit gesenktem Haupt und Tränen in den Augen davon. Sein Herz war gebrochen und schmerzte bei jedem Schritt.
Zuhause angekommen packte er den Stein wieder aus und betrachtete ihn. Er funkelte bunt in seiner Hand. Da fiel eine der Tränen, die Simon weinte, auf den Stein ... und verschwand. Es sah aus, als ob der Stein die Träne absorbieren würde. Dort, wo sie auf den Stein geflossen war und ihn für einen Moment dunkler gefärbt hatte, war nichts mehr zu sehen. Der Stein fühlte sich trocken an. Simon weinte in den folgenden Stunden und Tagen noch einige Tränen. Manche davon fielen auf den „Tränenstein“, so hatte Simon ihn genannt. Mit jeder Träne floss auch etwas vom Schmerz und Leid aus Simon.
Eines Tages, als wieder eine Träne auf den Stein fiel, brach der Stein auseinander. In der Mitte des Steins war ein dunkler Kern zu sehen. Noch immer traurig über seine verlorene Liebe und den Stein, warf Simon die Reste vor sein Haus auf den Boden. In dieser Nacht weinte auch der Himmel und es regnete aus allen Wolken. Als Simon am nächsten Morgen aufwachte, sah er, wie ein zartes Pflänzchen dort gewachsen war, wo er die Reste des Tränensteins hingeworfen hatte.
Nach einer Weile war aus dem Pflänzchen eine wunderschöne Blume gewachsen. Simon hat das Pflänzchen auch gegossen und gepflegt. Als die Blume erblühte, stand eines Tages ein Mädchen davor und betrachtete die Blume. Sie fragte Simon, woher diese Blume sei, und er erzählte die Geschichte des Tränensteins. Das Mädchen Jasmina, so hieß sie, war gerührt und hatte Tränen in den Augen. Sie erzählte nun ihrerseits, wie sie über viele Tage und Woche immer wieder von genau dieser Blume geträumt hatte. Der Wunsch, diese Blume zu finden, wuchs in ihr und so war sie losgegangen. Als beide sich ansahen, wurden ihre Blicke heller und ihre Herzen schlugen schneller.
So wie einst das Pflänzchen, wuchs nun ihre Liebe.

© Praxis „Der Zuhörer“ – Steffen Zöhl, 2017

Art. 202011 - Thomas Reimann
Tradition kostet Leben ... Verse zum Nachdenken von Thomas Reimann
Für Brüder Schwestern Meinesgleichen
Sind ab Geburt gestellt die Weichen,
Trotz stummen Schreis in wahrer Not
Kommt unaufhaltsam unser Tod,

Mein Täter hatte kein Gewissen
Brutal mich heiler Welt entrissen,
Ich wagte einen letzten Blick
Familie blieb erstarrt zurück,

Des Nachmittags um Viertelvier
Das neue Heim war dunkel hier,
Geschenke lagen mir zu Füßen
Hilflosigkeit mit Leben büßen,

Lichterschar umgab mein Sein
Frieden fühlte sich nicht ein,
Vergnügen nur auf einer Seite
Vergebens suchte ich die Weite,

Später als mein Zweck erfüllt
War auch des Täters Lust gestillt,
Seinen Vorsatz ich erkannt
Lag bald allein am Wegesrand,

Lässt sich dieser Vorsatz wandeln
Jährlich wiederholt zu handeln,
Fest der Liebe? Eitelkeiten?
Frag dein Herz nach Möglichkeiten,

Anders geht‘s beim nächsten Mal
Die Freiheit liegt in deiner Wahl,
Statt kaufen, aufstellen und entsorgen
Uns einzupflanzen übermorgen,

Gewachsen aus des kleinsten Samen
Brüder und auch Schwestern kamen,
Geboren einst als Gottes Traum
Verstorben nun als Weihnachtsbaum.

© ReimannzArt 2020

Thomas Reimann veröffentlicht Videos auf den Internetkanälen YouTube und Telegram, die zum Nachdenken anregen und Mut machen - zu finden unter ReimannzArt

Ein Motto von ReimannzArt: „Humor und Ironie als Kunstform versteht, wer die dafür nötige Empathie besitzt und erkennt, dass diese Art der Kommunikation wichtig ist, weil dadurch alte Denk- und Verhaltensmuster aufgelöst werden und so eine Chance auf Veränderung besteht."
Ich wünsche euch alles Gute.

Zurück zum Seiteninhalt