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Artikel aus der aktuellen Ausgabe - KGS Berlin - Körper Geist Seele

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Artikel aus der aktuellen Ausgabe

Aktuell

Die große Sehnsucht ... von Wolf Sugata Schneider

Unsere säkulare Gesellschaft ringt um ein neues Verhältnis zur Transzendenz. Wissend, dass wir unsere Probleme nicht auf der Ebene lösen können, auf der sie entstanden sind, müssen wir weiter blicken - über uns selbst hinaus, über unseren Tellerrand hinaus, unser kleines, manchmal egoistisches Ich. Aber auch über unsere kollektiven Bubbles müssen wir hinaus schauen. Wir müssen transzendieren, das heißt weitergehen, über die Ebenen hinaus, auf denen sich unsere Gefühle und Gedanken im Kreis drehen und uns dann in den Hamsterrädern routinierter Tätigkeiten festhalten. Immer mehr Menschen ist in diesen Zeiten neu entflammter Kriege und fortgesetzter Naturzerstörung bewusst, dass ein Weiter-so zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen führt. Wenn wir das politische und gesellschaftliche Geschehen den Kräften des Marktes und den Mehrheiten dumpfer Mitläufer überlassen, dann Gnade uns ...

Der Exodus geht weiter
Wer wachen Geistes und mit einem Minimum an weltlicher Intelligenz gesegnet ist, vertraut den Seilschaften der aktuellen sich selbst erhaltenden Gesellschaft nicht mehr - darin am wenigsten den alten Religionen. Der Exodus aus den Kirchen setzt sich fort, bald werden sie in Deutschland zu zwei kleinen Sekten geschrumpft sein. Wohin dann mit unserer Sehnsucht nach dem Paradies auf Erden? Auch die politischen Weltanschauungen füllen das Defizit nicht aus. Immerhin in Momenten großer persönlicher Verluste oder himmeljauchzenden Glücks, wissen wir es: Wir Menschen brauchen mehr als nur Brot und Spiele, ein Dach überm Kopf und ein bisschen soziale Anerkennung.
Wir sind profan geworden. Weltlich, alltäglich, sogar ordinär, weil das Heilige uns fehlt. Das Wort "profan" kommt aus dem Latein und bedeutet: das, was sich pro (vor, außerhalb von) dem Heiligen (fanum) befindet. Einst bedeutete es: außerhalb des Tempels. So unterscheiden wir heute noch in der Architektur Profan- und Sakralbauten. Der Sakralbau (Kirche, Moschee, Synagoge) galt früheren Kulturen als das Höchste. Diesem Bau, etwa den gotischen Kathedralen, widmeten diese Kulturen ihre Überschüsse. Heute sind die Kirchen leer. Die Skyline von Frankfurt zeigt, in welche Bauten unsere Gesellschaft ihre Überschüsse steckt.

Allein in der Kapelle
Kürzlich war ich für ein paar Tage stationär im St. Antonius Hospital in Gronau. Ich hatte Glück mit meiner Diagnose und der kleinen OP. Bei den meisten anderen Männern in meinem Zimmer hingegen gab die Diagnose weniger Anlass zu Optimismus. In dieser Todesnähe vertrauten wir uns in unseren Gesprächen auf eine Weise einander an, wie wir es mit einem Seelsorger (falls vorhanden) nicht tun würden und auch nur selten mit einem Arzt. Einmal begab ich mich auf der Suche nach Stille in die Kapelle dieses christlichen Hospitals. Dort war ich völlig allein, und es kam mir vor, als sei ich, der ungetaufte Freigeist, der einzige, der sie je besuchte.

Was wollen wir wirklich?
In meinen Kursen und Einzelcoachings begegnet mir häufig die Sehnsucht nach dem, was über uns hinaus weist. Egal, aus welchem Nest die Teilnehmer stammen, auf diese Sehnsucht treffe ich bei allen. Bei den Säkularen ebenso wie bei den sich immer noch als religiös definierenden Menschen.
Ich frage sie, was ihre höchsten Werte sind. Sind das Geld, Reichtum, Ruhm? Mag sein an der Oberfläche. In der Tiefe aber steckt in uns allen die Suche nach Liebe, Hingabe und so gesehen zu werden, wie wir sind. Dafür nehmen viele ein Außenseiterdasein mit wenig Geld und Anerkennung seitens der Institutionen in Kauf. Wir wollen von wenigstens einem Mensch geliebt werden und ein paar verlässliche Freunde haben, das genügt vielen von uns schon. Hungern muss in unserem Land ja keiner mehr, und wer sich nicht allzu blöd anstellt, hat auch eine Krankenversicherung und ein Dach überm Kopf.

Kann man über "DAS" sprechen?
Ich gebe Kurse in christlich, buddhistisch und hinduistisch geprägten Orten, auch in Hotels, in denen kein religiöses Symbol zu finden ist. Überall treffe ich auf Menschen mit Sehnsucht nach Transzendenz. Wenn ich von Gott spreche, dem Unaussprechlichen, nenne ich diesen Sehnsuchtsort manchmal das Unendliche, Unverfügbare, Unfassbare.
Das wahre Tao ist das, worüber man nicht sprechen kann, heißt es zu Beginn des Daodejing. Rainer Maria Rilke umschrieb es in seinen Gedichten, der Sufi-Dichter Rumi nannte es den Geliebten, Buddha sprach vorm Dharma, und Meister Eckart sagte: "Immer ist die wichtigste Stunde die gegenwärtige; immer ist der wichtigste Mensch, der dir gerade gegenübersteht; immer ist die wichtigste Tat die Liebe."

Ach, die Liebe ...
Ja, die Liebe. Aber was ist Liebe? Mit kaum einem Wort wurde schon so viel gelogen wie mit diesem. Kaum ein anderes Wort wurde schon so oft verwendet, um andere Menschen zu manipulieren - vielleicht so ähnlich wie mit dem Wort Gott. Wenn denn Liebe unser Gott ist, sollten wir dann dieses Wort besser nicht aussprechen, um es nicht zu entweihen?
Nein, wir dürfen uns bekennen. Im Bewusstsein unserer Fehlbarkeit und der Bereitschaft, uns bei jedem Fehler neu aufzuraffen, dem Ideal gerecht zu werden, sollten wir solche Bekenntnisse wagen. Wir sind Sisyphos bei seinem unablässigen Versuch Gott zu erreichen.
So lange sind wir das, bis das Bewusstsein uns küsst, dass wir schon dort sind, wo wir schon immer waren: in Gott geborgen, eins mit allem. Wir als einzigartige Individuen. Wir Subjekte, die sich für dies oder das entscheiden und als solche Schöpfer sind. Schöpfer der Welt.

Wir sind nicht allein
Wie erreichen wir diese Erkenntnis? Nur gemeinsam! Denn nicht nur im Tun, auch im Erkennen kommen wir auf uns allein gestellt nicht weit. Immer sind wir Teil von etwas, das größer ist als unser kleines Ich. Jede von uns ist größer, als sie sich in ihrer Verzagtheit fühlt. Oft genug blinzelt es durch die Ritzen unseres alten Ichs hindurch, dass wir Schöpfer sind von allem. Jeder von uns ist als Subjekt die Mitte der Welt. Das Universum besteht aus sich selbst und die Welt wahrnehmenden solchen Mittelpunkten. Als solche sind wir das große Ganze. Mitte und Peripherie sind darin eins.

Aufbruch
In diesem Bewusstsein können wir eine neue Religiosität - vielleicht besser Spiritualität genannt - kreieren. Eine, die uns nicht trennt, sondern verbindet, in der wir mit unseren so verschiedenen Biografien, aus so verschiedenen Nestern stammend, in so verschiedenen Regionen und Beziehungen beheimatet sind - und dabei in der Transzendenz doch alle eins sind. Vor dem Hintergrund der Leere, Stille, Unendlichkeit sind wir nur Gestalten, die nach dem Abtritt von der Bühne wieder erlöschen. So wie es uns vor dem Auftritt noch gar nicht gab. Dieses Erlöschen im Unendlichen ist es, was uns eint. Darin sind wir alle gleich. Es ist kein Erlöschen besser oder schlechter als ein anderes.
Was für eine Ironie, dass "katholisch" im Wortsinn "allumfassend" heißt. Was haben die Katholiken, darin ähnlich den Moslem, doch um die Deutungshoheit der Welt gekämpft und dabei Ungläubige und Ketzer hingerichtet. Obwohl das Katholische als das alles Umfassende doch auch die - eben nur vermeintlich - anderen, die Ketzer und Ungläubigen, in sich enthalten müsste.

Räume der Transzendenz
Die neue Religiosität sollte wirklich alles umfassen und beinhalten. Dann ist die Welt ein Weltinnenraum, außen und innen ein Ganzes. In einem solchen Raum kann es keine Feinde und Abtrünnige mehr geben, denn alle wissen: Auch das andere bin ich.
Unsere Sakralräume werden dann keine religionsspezifischen Räume mehr sein, sowas wie Kirchen, Moscheen, Tempel oder Synagogen. Es werden der weiten Transzendenz gewidmete Räume sein, offen für alle, die diese große Sehnsucht in sich spüren.

Wolf Sugata Schneider, Jg. 52. 1985-2015. Hrsg. der Zeitschrift Connection. Autor von »Sei dir selbst ein Witz« (2022). Webpräsenzen: www.connection.de, www.bewusstseinserheiterung.info, www.ankommen.website

Hinweis zum Artikelbild: © Cristina Conti – AdobeStock



Die zwei Gesichter Gottes ... von Werner Gross

Traditioneller Glaube und etablierte Religiosität haben es bei uns zurzeit nicht einfach: Einerseits boomt die Esoterikszene, und viele Leute suchen sich Hilfe in mehr oder weniger abstrusen Sinnsystemen. Andererseits haben die großen Religionen längst ihre Unschuld verloren. Deshalb sind für viele heutzutage die etablierten Religionen ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite bedeuten sie für eine ganze Reihe von Menschen seelische Unterstützung und Hilfe - nicht nur - in Krisensituationen; auf der anderen Seite geschehen in ihrem Namen Selbstmordattentate und Religionskriege, und unter ihrem Deckmantel blüht(e) der sexuelle Missbrauch an Kindern. Welchen Sinn hat Religiosität heute noch? Und wie nähert man sich in einer Haltung begründeten Zweifels dem Thema Glaube und Religion?

Die Frage nach dem Sinn
Obwohl die beiden traditionellen Religionsgemeinschaften von immer weniger Menschen nachgefragt werden, ist das Bedürfnis nach Orientierung, Sinn und Struktur bei vielen vorhanden - und es steigt in unsicheren Zeiten wie heute.
Was können wir wissen und was müssen wir glauben? Darauf geben die von den Religionen vorgestanzten Sinnsysteme für viele keine zufriedenstellenden Antworten mehr. Die Antworten der Kirchen - "Jesus ist die Antwort ... wie war noch mal Ihre Frage?" - und die Sinnsysteme von der Stange, wie sie Religionen anbieten, reichen vielen reflektierten Menschen heute einfach nicht mehr aus. Denn ernsthafte Sinnsuche und Sinnfindung ist nur allzu oft ein langwieriger Prozess.
Da die beiden großen Kirchen heutzutage für die meisten Deutschen nur noch wenig passende und glaubwürdige Antworten auf die Sinnfragen liefern, suchen viele gerade in Krisensituationen an anderen Stellen. So werden Esoterikszene und Psychomarkt für den einen oder anderen als Antwortgeber attraktiv.
Aber auch die seriöse Psychotherapie wird diesbezüglich nachgefragt. Weil sie davon ausgehen, dass sie dort nicht mit vorgefertigten Glaubenssätzen abgespeist werden, suchen nicht wenige auch deshalb - und nicht nur wegen seelischer oder körperlicher Erkrankungen - Hilfe bei Psychologen oder Psychotherapeuten. Gerade wenn die krankheitswertige Symptomatik weitgehend bearbeitet ist, tauchen am Ende von psychotherapeutischen Prozessen nicht selten die Sinnfragen auf:

Wer bin ich?
Woher komme ich?
Was mache ich mit meinem Leben?
Was gibt meinem Leben Sinn?
Wie gebe ich meinem Leben Sinn?
Wie gehe ich um mit Sinnkrisen?
Aus welchen Quellen schöpfe ich Sinn?

Manchmal ist der Weg der Selbst- und Welterkenntnis voller Irrungen und Wirrungen, voller Risiken mit Höhen und Tiefen, voller Ungewissheiten und Verunsicherungen. Gerade wenn Psychologen oder Psychotherapeuten Menschen durch ihre Krisen begleiten, ist es wichtig, dass diese selbst mit ihrer eigenen Lebensgeschichte einigermaßen versöhnt sind und sich schon mit bestimmten philosophischen Grundfragen beschäftigt haben. Nur dann sind sie in der Lage, Patienten in schwierigen Situationen unvoreingenommen zu begleiten, ohne dass sie ihre eigenen Dissonanzen und Probleme auf dem Lagerfeuer der Patienten abkochen müssen. Deshalb ist neben der theoretischen und praktischen Psychotherapeutenausbildung die persönliche Selbsterfahrung und Selbstreflexion der Psychotherapeuten so wichtig.

"Du bist näher bei Gott, wenn du eine Frage stellst, als wenn du eine Antwort gibst" (jüdische Weisheit).

Sinnangebote der Religionen: Hilfen und Grenzen
Denn ob man den Sinn und die Antworten auf die obigen Fragen in den Kirchen und deren religiösen Angeboten sucht und findet, hängt von mehreren Faktoren ab, zum Beispiel von dem Umfeld, in dem man groß geworden ist, der Familie, dem Dorf, der Stadt, der Kultur. Man wurde, zumindest in West-Deutschland, meist noch in eine Religion hineingeboren, hat sie sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen und sie im Laufe des Lebens mehr oder weniger gut in das eigene Leben eingebunden. Wenn es gut läuft, ist der Glaube Teil des Lebens und ist integrierte Weltanschauung, damit hilfreich, und kann die persönliche Entwicklung unterstützen.

Der Taumel der Freiheit
Der Hintergrund: Wir alle haben in uns ein Spannungsfeld aus zwei widerstrebenden Bedürfnissen. Wir haben einerseits in uns den Wunsch nach Autonomie, Freiheit, Selbstständigkeit, Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung. Andererseits gibt es in uns das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Aufgehoben-sein in einem sinnvollen, größeren Ganzen, in dem wir uns vertrauensvoll fallen lassen können.
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat diesen inneren Zwiespalt den "Taumel der Freiheit" genannt. Dieser innere Konflikt begleitet uns unser ganzes Leben: Mal steht das Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit im Vordergrund, mal das Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und Aufgehoben-sein. Im Grunde ist es eine Art innere Risikoabwägung: Einerseits sagen zum Beispiel viele junge Leute: "No risk, no fun." Andererseits schlottern vielen von uns, zum Beispiel in Krisen, die Knie, und wir sehnen uns nach dem, was manche eine "wohlwollende Abhängigkeit" von glaubhaften Autoritäten nennen. Und genau hier kommen die Priester und die Religionen ins Spiel. Wir suchen nach vertrauenswürdigen Personen und Institutionen, die uns das Gefühl vermitteln, dass alles bewältigbar ist, gut wird und einen Sinn hat. Man könnte sagen, es ist die Sehnsucht nach Urvertrauen in einer von Krisen gebeutelten Zeit.

Das Bodenpersonal Gottes - glaubhafte Autoritäten?
In vielen Mythen, Märchen und Sagen gibt es eine Sehnsucht nach diesen glaubhaften Autoritäten. Zu ihnen aufschauen zu können, jemanden zu bewundern, der es scheinbar besser weiß und Orientierung gibt, ist ein kindlich-regressives Bedürfnis. Was sich im banalen Leben als Starkult - Popstars, Filmsternchen, Fußballgrößen - zeigt, ist in der Religion die mystische Überhöhung der Priester zu Personen, die vermeintlich oder nur in der Fantasie der Gläubigen einen direkten Draht zu höheren Wesen haben. Manchmal ist es Gott oder ein Heiliger, ein Religionsführer oder gar der Papst, der ja nicht selten als "heiliger Vater" und als "Stellvertreter Gottes auf Erden" bezeichnet wird. In anderen Kulturen ist es vielleicht ein Guru oder Brahmane, ein Rabbi oder Mullah, ein Schamane oder der Dalai Lama.

Amts-Charisma und persönliches Charisma
Zentral ist dabei meist die persönliche Beziehung, dass Gläubige den betreffenden Priester für glaubwürdig und kompetent hält und ihm vertraut. Dann ist man/frau offen für dessen Unterstützungen, seine Botschaften und Erkenntnisse. Wenn das gelingt, kann es Gläubigen helfen. Allerdings: Nicht jeder Priester ist für jeden Gläubigen nur deswegen vertrauenswürdig, weil er Priester ist ("Amts-Charisma").
Vielmehr hat das mit der persönlichen Glaubwürdigkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungsdimension zu tun, ob man sich dort aufgehoben und geborgen fühlt und Empfehlungen annehmen kann.

Bevormundende Fürsorglichkeit
Beispiel katholische Kirche: Dort gelten die Priester als Mittler zwischen Gott und den Gläubigen. Um sie vor den sieben Todsünden - Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit - zu bewahren und die Glaubensherde beisammenzuhalten, geben die Priester ihrer Gemeinde gerne Orientierung und machen den Gläubigen Vorgaben, nach dem Motto: "So sollst du leben - das darfst du - und das nicht". Es geht dabei einerseits um die Einhaltung der ethischen Regeln aus den Zehn Geboten: nicht lügen, nicht stehlen, kein Ehebruch, Mord- und Totschlag. Woran sich die meisten Menschen auch halten.
Andererseits spielen die im engeren Sinn religiösen Regeln eine immer geringere Rolle: Täglich beten, sonntäglicher Gottesdienst, beichten nach sündigem Verhalten, et cetera finden heute nur noch bei wenigen Menschen konsequenten Eingang in ihren Alltag. Die meisten Menschen in unseren Breitengraden haben sich längst von diesen religiösen Vorgaben verabschiedet.
So kommt es dazu, dass bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, in der man aufgewachsen ist, hochgradig ambivalent ist. Was sich auch in den oben genannten Kirchenaustrittszahlen zeigt.

"Alle Religionen scheinen den Ignoranten göttlich, den Politikern nützlich und den Philosophen lächerlich"
(Lucretius, 98 bis 55 vor Christus, römischer Dichter).


Glaube - was ist das?
Das Wort Glaube hat schließlich eine religiöse und eine alltägliche Dimension. Im Alltag verbirgt sich dahinter die grundsätzliche Bereitschaft, einen bestimmten Sachverhalt für wahr zu halten, den man nicht geprüft hat oder nicht überprüfen konnte. Man könnte sagen: Glaube ist Gewissheit ohne Beweise.
Da individueller Glaube etwas hochgradig Subjektives ist und da man Gott nicht direkt sehen und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht beweisen kann, trifft das natürlich auch auf die Religion zu.
Gerade im religiösen Bereich ist der Glaube dann hilfreich, wenn die religiöse Sichtweise und Weltanschauung gut integriert ist. Er ist dann eine Form von "Urvertrauen", das Sicherheit geben kann und das Leben vereinfacht.
Glaube und Religion können aber auch problematisch werden, zum Beispiel wenn sie in der Kindheit dem Heranwachsenden nicht angemessen, sondern beispielsweise durch Druck und Zwang nahegebracht wurden. Dann ist der Glaube ein ungutes "Introjekt", das nicht integriert werden kann, weil es in der persönlichen Lebensgeschichte Probleme mit dem religiösen Glaubenssystem gab und gibt.

"Religionen sind wie Leuchtwürmer; sie bedürfen der Dunkelheit, um zu leuchten" (Arthur Schopenhauer).

Glaube: "Faith" und "Belief"
Das deutsche Wort Glaube wird im Englischen mit zwei sehr unterschiedlichen Begriffen belegt. Es wird differenziert zwischen "Faith" und "Belief".
Unter Faith wird Glaube im Sinne von allgemeinem Gottvertrauen als tragender und prägender Kraft des menschlichen Daseins verstanden. Man könnte auch sagen, es handelt sich um die oben beschriebene Art von "Urvertrauen", die in allen länger bestehenden Religionen in allen Kulturen zu allen Zeiten identisch ist. Wenn es gelingt, diese undogmatische Seite der Religion im Blick zu haben, kann Religion heilsam sein.
Unter Belief versteht man im Gegensatz dazu die konkreten Glaubensinhalte und Glaubenssätze der einzelnen Religionen. Diese Glaubensinhalte sind in einem hohen Maße kulturell und durch den Zeitgeist bei der Entstehung geprägt und mehr oder weniger sinnvoll. Hier unterscheiden sich die verschiedenen Religionen hochgradig, sie sind der Hintergrund zu den vielen Glaubenskämpfen und Religionskriegen, alle nach dem Motto: "Nur wir haben den richtigen Glauben, und wir müssen euch missionieren. Zur Not mit Feuer und Schwert. Denn seid ihr nicht willig, so brauchen wir Gewalt." Dadurch werden die Religionen im schlimmsten Fall zu Kampfbegriffen.

"Die Wahrheit geht manchmal unter - aber sie stirbt nicht."

Religiosität
Bei Religiosität handelt es sich meist um die höchst individuelle Glaubenserfahrung und Glaubenspraxis der jeweiligen Religion, die den Fokus auf die intrapsychische Verarbeitung des äußeren Glaubenssystems, auf der "inneren Bühne", legt. Man nennt diese Form auch "intrinsische Religiosität".
Persönliche Religiosität entspringt häufig dem Wunsch nach Sinnfindung, nach Welterklärung und dem Versuch, unerklärliche Phänomene auf eine verständliche Ursache zurückführen zu können. Religiosität unterliegt einem komplexen neurobiologischen und psychologischen Geschehen, das man allerdings noch nicht ganz erklären kann.
Die meisten Menschen tragen wohl in sich die Fähigkeit, einen "transzendenten Sinn" zu entwickeln. Der Philosoph und Theologe Friedrich Schleiermacher (1768 bis 1834) findet denn auch in der Religiosität vor allem den menschlichen "Sinn und Geschmack für das Unendliche". Gerade heutzutage wird allerdings nicht mehr so gern von Religiosität gesprochen - weil man den Begriff nur allzu oft mit den traditionellen Großkirchen verbindet. Heute spricht man lieber von "Spiritualität".


Bastel-Religiosität und Patchwork-Spiritualität
Abgeleitet ist der derzeitige Modebegriff Spiritualität vom lateinischen Wort "Spiritus" (Hauch, Geist) oder "spiro" (ich atme). Auch bei Spiritualität handelt es sich um ein komplexes Konstrukt. Gemeinsam mit Religiosität geht man auch bei der Spiritualität davon aus, dass es mehr gibt als das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und mit unserem Verstand erklären können (Transzendenz).
Religionen tun gern so, als seien sie knitterfreie, unhinterfragbare Sinnsysteme. Durch ihre Dogmen haben sie zumeist statische Weltbilder, die sie nur manchmal dem Zeitgeist anpassen. Sie sind auch darauf spezialisiert, den Idealismus ihrer Gläubigen auszunutzen und das Bedürfnis nach magischer Welterklärung zu befriedigen. Religion ist zwar mehr als Magie, aber unreflektierter Glaube kann magische Sichtweisen produzieren.
Weil viele von den angestammten Religionen enttäuscht sind, wenden sie sich häufig dem freien Markt der Weltanschauungen und der freien Spiritualität zu, siehe oben. Und wer ein Sinnsystem von der Stange, wie Religionen es bieten, nicht übernehmen kann oder will, der muss sich sein Sinnsystem eben selbst zusammenbasteln oder zusammenklauben: "Bastel-Religiosität" oder "Patchwork-Spiritualität" nennt man das in Neudeutsch. Genau dieser unverbindliche Zugang ist in der Esoterikszene üblich: von hier ein bisschen Buddhismus, eine Prise Christentum, etwas Schamanismus und viel diffuse Esoterik - von Bachblüten und Astrologie über Edelsteintherapie und indianische Schwitzhütte bis hin zu Trancetänzen und Kinesiologie.
Hier zeigt sich auch der Unterschied zwischen den Ansprüchen der Religion und der frei flottierenden Spiritualität: Religiosität fordert - bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen; Spiritualität erlaubt - alles Mögliche.

Der Blinde ist ein guter Führer in dunkler Nacht. Tagsüber sollte man sich auf seine eigenen Augen verlassen.

Nutzen der Religion
Keine Frage: Für wirklich Gläubige können religiöse Vorstellungen wie der Glaube an Gott oder eine übermenschliche Energie und spirituelle Praktiken wie Gebete, Gottesdienste, Meditationen hilfreich und unterstützend sein. Für Ungläubige sind es Illusionen. Wenn sie wohlgesonnen sind, dann akzeptieren sie wenigstens, dass diese Vorstellungen für die Gläubigen hilfreich sind. Wenn nicht, halten sie diese für - im schlimmsten Fall gefährliche - Spinnereien von "Religioten".
Andererseits ist es die "bevormundende Fürsorglichkeit", die in vielen religiösen Organisationen gang und gäbe ist, deretwegen viele Mitglieder in innere oder auch äußere Distanz zu ihrer religiösen Herkunftsgemeinschaft gehen. Gerade in Zeiten, in denen zum Beispiel in der katholischen Kirche heftig über Themen wie die vatikanische Reformunwilligkeit, den "Synodalen Weg", "Maria 2.0" oder sexuellen Missbrauch diskutiert wird, gehen viele erst in die "innere Emigration", bevor sie dann ganz aus der Kirche austreten.

Fromme Unmenschlichkeit
Problematisch für die tradierten religiösen Weltbilder kann sein, dass die Gläubigen vor allem über Angst, zum Beispiel vor der Hölle, an ihr religiöses Glaubenssystem gebunden werden. Dogmatismus, Extremismus, Fanatismus und im schlimmsten Fall Terrorismus und Glaubenskrieg können das Ergebnis sein. Denn die meisten Religionen bergen die Gefahr, durch ihren Dogmatismus zum Fanatismus zu werden. Das kann auch zu dem führen, was man "fromme Unmenschlichkeit" nennen könnte.
Man muss nicht nur an das Thema sexueller Missbrauch denken, sondern etwa auch daran, was in christlichen Kinderheimen an Gemeinheiten durch Nonnen, Klosterbrüder, Priester und gläubiges Aufsichts- und Lehrpersonal über Jahrzehnte angerichtet wurde. Ironisch könnte man sagen: Je heiliger das Fest, umso geschäftiger der Teufel.

"Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, noch nicht mal existieren muss" (Charles Baudelaire).

Humanistische und autoritäre Religion: Heil und Unheil durch Glauben
Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat schon sehr früh unterschieden zwischen autoritärer und humanistischer Religion. Es geht dabei um die Frage: Wo ist Religion unterstützend und hilfreich für die Entwicklung des Menschen und wo ist sie schädlich, weil entmündigend und die freie Entfaltung des Menschen behindernd? Wozu wird Religion benutzt und wie wird mit Religion Macht ausgeübt?
Die Unterscheidung zwischen autoritärer und humanistischer Religion zieht sich - nach Erich Fromms Sichtweise - durch alle Religionen. Alle Glaubensbekenntnisse können autoritäre oder gar totalitäre Züge aufweisen oder sich dahin entwickeln.
Das trifft für Extremformen zum Beispiel des fanatisierten Islamismus zu, siehe die aktuellen Terroranschläge islamistischer Attentäter. Aber auch im Christentum gibt es diese Exzesse, wie etwa die ebenfalls mit Waffen ausgetragenen Auseinandersetzungen katholischer und protestantischer Christen in Nordirland. Oder bei strikt religiösen Gruppierungen wie "Opus Dei".
Die Unterscheidung zwischen autoritärer und humanistischer Religion findet sich aber auch in den milderen Formen der religiösen Auseinandersetzungen. Denn die Übergänge zwischen Glaubensgewissheit, Dogmatismus, Missionierung, Fanatismus und Terrorismus sind fließend.

Autoritäre Religion: Von Frohbotschaft und Drohbotschaft
Autoritäre Religion ist nach Erich Fromm durch die Vorstellung gekennzeichnet, dass eine höhere Macht (Gott) einen Anspruch auf Verehrung, Anbetung und Gehorsam hat. Wesentlich ist danach die Unterwerfung des Menschen unter die - vermeintliche - Macht Gottes. Diese Macht kann auf einen menschlichen Führer, quasi als Stellvertreter Gottes auf Erden, also auf Leiter von Religionsgemeinschaften oder "wahre" Interpreten der heiligen Bücher - Bibel, Koran, Talmud et cetera - übertragen werden: Priester, Gurus, Mullahs, Bischöfe, Papst bekommen dadurch eine nicht hinterfragbare Macht. Es ist nicht erlaubt, diese in Zweifel zu ziehen und in Distanz zum Glaubenssystem zu gehen.

Humanistische Religion
Nach Erich Fromm ist humanistische Religion durch die Empfindung des Einsseins mit dem All gekennzeichnet. Selbstverwirklichung und nicht Unterwerfung will der Mensch in der humanistischen Religion erreichen. Fromm schreibt: "Glaube ist Sicherheit der Überzeugung, erworben durch eigene Erfahrung mittels Denkens und Fühlens, nicht Annahme einer Satzung aufgrund des Ansehens dessen, der sie gesetzt hat." Für ihn ist dabei die vorwiegende Stimmung Freude.
Humanistische Religion schreibt nicht vor, wie wir zu leben haben. Der Mensch hat die Freiheit - ohne religiöse Vorgaben - herauszufinden, wer er ist, was in ihm angelegt ist und was sich in ihm verwirklichen will. Damit hat er auch die Verantwortung für sein Leben.
Religionen sind also dann problematisch und gefährlich, wenn sie dogmatisch und starr werden, die Realität nicht mehr wahrnehmen und versuchen, auf dem Prokrustes-Bett ihres Glaubenssystems die Realität zu verzerren. Manchmal ist es deshalb hilfreich, die Last der religiösen Dogmen, die sich im Laufe der Religionsgeschichte angesammelt haben, genauer unter die Lupe zu nehmen und auszumisten. Gute Religion ist nicht Anbetung der Asche, sondern Weitertragen des Feuers. Im Islam heißt es: "Vertraue auf Allah, aber binde deinem Kamel die Füße."


Gesund und krank machende Religiosität
Da es um die Grundfragen des Menschseins geht, hat ein religiöses Weltbild nicht nur einen Einfluss auf die individuelle Konstruktion der Wirklichkeit: Wer bin ich? Was soll ich hier? Was ist für mich ein sinnvolles Leben? sondern auch auf das Wohlbefinden. Denn zweifellos können Religion und Glaube einen Einfluss auf Befindlichkeit und Gesundheit eines Menschen haben. Das kann positiv sein, aber auch problematisch. Und das hängt sowohl vom Glaubensinhalt wie auch von der Stärke des Glaubens ab.
Wenn Gott als wohlwollende, unterstützende und liebende Kraft erlebt wird, hat das positive Auswirkungen; gerade bei Schicksalsschlägen und in Krisenzeiten hilft vielen "Gottvertrauen". Nicht wenige Alkoholiker sind durch ihren Glauben an eine - wie es bei der Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker (AA) heißt - "höhere Macht" von ihrer Sucht befreit und trocken geworden. Wenn allerdings ein strafendes und richtendes Gottesbild vorherrscht, hat das oft negative Ergebnisse.
Man kann also sagen, dass die aktuelle subjektive Einstellung und Verarbeitung der in der Lebensgeschichte gelernten und praktizierten Religion in der konkreten Situation sehr wichtig ist.
Es wäre somit falsch zu sagen: Katholizismus ist gut und Protestantismus schlecht, oder Islam ist gut und Buddhismus schlecht, sondern es kommt drauf an, was man auf der subjektiven "inneren Bühne" aus seinem Glauben macht.
Und das hängt sowohl vom Glaubensinhalt als auch von der Glaubensintensität ab. Und nicht zuletzt davon, welche Rolle ganz allgemein Religion in meinem Leben spielt und wie weit sie eine Bedeutung bei der Konstruktion meiner Persönlichkeitsstruktur hat.


Zusammengefasst: Was sind Religionen?
Auf der soziologischen Ebene ist Religion ein kulturell vermitteltes Regelwerk, das in einer Gesellschaft vorgibt, was richtig und was falsch ist. So gesehen kann man Religionen - vereinfacht betrachtet - als Denkmodelle bezeichnen, nach denen Menschen mehr oder weniger bewusst ihr Leben ausrichten. Nicht nur die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam), sondern auch die polytheistischen (Hinduismus, Shinto, Santeria) und die Religionen, die ohne personales Gottesbild auskommen (Buddhismus, Taoismus) fordern tugendhaftes Verhalten und warnen vor der Sünde: Die wahren Gläubigen werden belohnt, indem sie in den Himmel kommen oder bestraft durch die ewige Verdammnis in der Hölle.
Gerade hier zeigt sich die Janusköpfigkeit aller Religionen welcher Glaubensrichtung auch immer: einerseits das helle, lebensfrohe oder fromm-demütige Gesicht der Religionen, das sich am Leitstern des guten Glaubens ausrichtet und den wahren Gläubigen ein Leben im Paradies verspricht, andererseits der mitunter fanatische und egoistisch-besserwisserische Schatten, der auf der Wahrheit der einzig möglichen religiösen Weltsicht beruht.

"Der Erfolg des lieben Gottes hängt damit zusammen, dass man ihn nicht sieht."

Wissen und Glauben
Hinzu kommt: Die Übergänge zwischen Wissen, Glauben, Gläubigkeit und Leichtgläubigkeit sind fließend. "Glaubst du noch oder weißt du schon?" heißt ein Slogan der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung (GBS). Zweifellos wird viel geglaubt, aber wenig gewusst. "Nachdenken statt nachbeten" lautet deshalb der Tenor der GBS. Aber was können wir schon wirklich wissen? Deshalb könnte ein Ziel sein: mit klarem Kopf glauben.
Glauben reduziert zwar Komplexität, aber man kann darüber nachdenken und die eigene Position reflektieren und für sich begründen: Religiöse Einfalt kann sehr wohl verknüpft werden mit wissenschaftlicher Vielfalt. Allerdings: Viele Menschen glauben immer noch lieber an das leicht Verstehbare, das Greifbare, das besser in ihr bisheriges Konzept passt als die un(be)greifbare Wahrheit.


Werner Gross ist Diplom-Psychologe, Psychotherapeut, Supervisor und Coach, Dozent und Lehrtherapeut, Unternehmens- und Organisationsberater sowie Buchautor mehrerer Bücher. Ausführliche Infos zu seinen Stationen aus Leben und Arbeit finden Sie unter www.wernergross.com Buchtipp: Werner Gross: Meinetwegen nenn´ es Gott. Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität. Springer 8.2024, Softcover, 228 Seiten, 24,99 Euro, ISBN 978-3-662-68072-8

Hinweis zum Artikelbild: © Kalawin – AdobeStock



Alles in der Natur hat eine Stimme ... von Petra Hinze

Ich liege auf der Erde, meine Augen sind geschlossen, ich atme den Duft der Wiese ein und ein wohliges Gefühl mit vielen schönen inneren Bildern aus der Vergangenheit taucht in mir auf. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich höre das Surren der Insekten ganz dicht neben meinen Ohren. Manche sind so klein - aber was sagt schon die Größe über die Lautstärke aus. Ich spüre den Wind, wie er mich berührt und in Richtung der Bäume weiterzieht. Wie laut das Rauschen der einzelnen Blätter ertönt und es in den Wald weiterzieht. Vögel fliegen in den Himmel … was sie mir wohl für eine Nachricht vermitteln möchten? Die Natur ist nicht still, sie ist voller Leben und hat ihre ganz eigene Sprache. Sie spricht Bände. Seien wir mit offenen Augen in der Natur. Das beobachten und deuten der Zeichen ist seit alters her bekannt.

So erinnere ich mich aus der Erzählung einer Schamanin aus Sibirien, in der ihre Großmutter immer in der Früh ihre Jurtentür öffnete, und wenn ein Vogel von Westen angeflogen kam, hatte sie Besuch zu erwarten. Da gab es für sie keinen Zweifel, denn meist stimmte es. So war ihre Erfahrung.
Genauso deuten wir, wenn die Schwalben sehr tief fliegen, dass schlechtes Wetter naht. Es ist nicht nur eine Redewendung, sondern hat einen meteorologischen Hintergrund. Vor einem Wetterumschwung (z. B. Regen) sinkt der Luftdruck, die Insekten fliegen näher am Boden und die Schwalben folgen ihrer Beute. Schon als Kinder brachte es uns unsere Oma bei.
Auch das Deuten des Wetters hat eine lange Tradition. Unsere Bauern kannten diese Sprache und wussten, wenn die Wolken wie Watte zerpflückt aussehen, dass Regen kommen kann.
Bauern besitzen viel Weisheit, sie sind sehr mit den Elementen verbunden. Kurt, mein guter weiser Freund aus den Schweizer Bergen, hat mir viel über das Wetter beigebracht. Sein Großvater wusste um die Wetterdeutung und gab sein wertvolles Wissen an ihn weiter. Bis heute wird im Bauernkalender der Einfluss von Sternenkonstellationen und Mondphasen auf die Wirkung bei Pflanzen zu bestimmten Zeiten berücksichtigt. Das passiert ja nicht einfach so, sondern basiert auf jahrhundertealten Erkenntnissen. Die Erde fruchtbar zu bestellen und einen guten Ertrag am Ende einer Saison einzufahren, war lebensnotwendig.
Das Wetter und die Sonne sind ebenso verbunden. Ohne Sonne kein Wachstum, was für uns ebenso gilt, da wir Teil der Natur sind. Der Zyklus der Sonne ist in den Jahreskreisfesten verankert, wobei die Sonne als Lebens- und Fruchtbarkeitsspenderin verehrt und gefeiert wird. Es gab viele Sonnenkulte, wie in Ägypten mit dem Sonnengott Ra, dem Schöpfer allen Lebens. Tagsüber fährt er mit seiner Sonnenbarke über den Himmel und nachts kämpft er gegen die Finsternis. Ra ist das Licht, Ordnung und der Ursprung - das Auge, das alles sieht.
So schweifen unsere Augen in die Landschaft, tasten, filtern und formen unsere innere Landkarte, die uns prägt. Sie legt zugleich den Grundstein für unsere Sprache, die sich im Ausdruck der Umgebung spiegelt: nordisch herb an der Küste und in den Bergen, wo selbst hinter dem nächsten Hügel ein anderer Dialekt gesprochen wird. Die Landschaft formt nicht nur unsere Sprache, sie schleift auch unseren Charakter. Den Berlinern wird eine gewisse Freche nachgesagt, den Italienern Lebendigkeit, den Japanern Zurückhaltung, und so zeigt sich die Sprache der Natur auf ganz eigene Weise in uns.
Doch nicht nur in der Sprache und im Wesen spiegelt sich die Natur, sondern auch in den Pflanzen, die in unseren Gärten und Umgebungen wachsen - Pflanzen, die wir oft nicht selbst ausgesät haben. Sie bringen uns Hinweise, was wir für unsere Gesundheit benötigen. Heilkräuter erinnern uns mit ihrer Präsenz, was uns guttut. Der Löwenzahn etwa, der uns zur Entgiftung anregt und unsere Kräfte stärkt, ist ein Zeichen der Erde, dass sie uns immer wieder auf sanfte Weise zu sich zurückführt. In der Pflanzenastrologie wird davon ausgegangen, dass bestimmte Pflanzen bestimmten Planeten und damit bestimmten Organen und Körpersystemen zugeordnet sind. Die Natur sendet uns Zeichen und steht uns stets hilfsbereit zur Seite. Was wir manchmal als zufällige Pflanzenbegegnung betrachten, kann in Wirklichkeit eine Antwort auf unsere Bedürfnisse sein. Die Pflanzen wechseln sich ab - es sind nicht jedes Jahr dieselben, was uns zeigt, dass die Natur sich im Einklang mit unserem eigenen Rhythmus verändert und weiterentwickelt.
Die Natur offenbart uns noch viel mehr. In den Formen der Landschaft und den Wachstumsrichtungen der Bäume verstecken sich Botschaften, die tiefere Geheimnisse der Erde verraten. Die Erde spricht zu uns. Sie zeigt uns, wo Wasseradern unter der Erde verlaufen, was die Art der Erde bedeutet und wie der Baum in seiner Wuchsform uns Hinweise auf verborgene Kräfte gibt. Bestimmte Baumansammlungen oder die Art und Weise, wie Bäume wachsen, können uns zeigen, wo sich die Erde besonders lebendig anfühlt, wo Quellen verborgen sind oder, wo die Energie des Landes besonders stark ist. In dieser stillen Kommunikation zwischen Erde, Pflanzen und uns liegt ein Wissen, das uns hilft, im Einklang mit der Natur zu leben.
In der Geomantie werden diese Zeichen wie ein Alphabet der Erde gelesen - eine alte Kunst, die es uns ermöglicht, die energetischen Strukturen und natürlichen Zyklen eines Ortes zu entschlüsseln. So, wie wir die Worte einer Sprache lesen und verstehen, kann man erlernen, die energetischen Muster einer Landschaft zu deuten.
In dieser stillen Kommunikation zwischen Erde, Pflanzen und uns liegt ein Wissen, das uns hilft, unser Leben harmonischer und achtsamer zu gestalten. Wenn wir lernen, diese "Sprache" der Natur zu lesen, öffnen sich uns Wege zu einem tieferen Verständnis der Erde und ihrer verborgenen Kräfte.

Was können wir tun?
Es ist immer wertvoll, den Austausch mit älteren Menschen zu suchen. Sie haben viel Erfahrung und Wissen gesammelt, das sie meist gerne weitergeben. Interessanterweise wurden auch ihnen oftmals von deren Ältesten die Zeichen und Hinweise der Natur beigebracht. Dieses Wissen wurde meist von Generation zu Generation weitergegeben.
Das Lesen von Sprichwörtern ist auch eine schöne Möglichkeit. Ein Beispiel ist das Sprichwort: "Abendrot, schlecht Wetter droht." Es zeigt, wie viel die Natur uns über kommende Ereignisse verraten kann.
Eine spannende Legende erzählt, wie ein Schamane zu einem Felsen wird, wenn er keine guten Taten vollbracht hat. Er bleibt solange als Felsen an einem Ort, um zu lernen, wie die Welt funktioniert, indem er beobachtet und still ist. Er soll den Rhythmus des Lebens erfahren und die Zeit verstehen. Er sieht, wie die Menschen und Tiere vorbeiziehen, wie Tag und Nacht sich abwechseln, wie sich der Regen anfühlt, wie die Kälte des Winters Spuren hinterlässt. Er beobachtet, wie die Jahre vergehen und Jahrtausende verfliegen. Diese Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, aufmerksam zu sein, die Natur und Menschen zu respektieren und zu ihrem Wohle beizutragen.

"Im Einklang mit unserer Umwelt zu leben und ihre Weisheit zu schätzen ist auch Demut."

Eine hilfreiche Übung ist es, sich in die Natur zu setzen, ganz still zu sein und der Erde zuzuhören - ohne Erwartungen. Das hilft uns, eine tiefere Verbindung zur Natur herzustellen und schärft unsere Wahrnehmung. Die Natur sucht ständig die Verbindung zu uns, um uns immer wieder mit ihr zu verbinden. So sendet sie uns täglich Informationen.
Auch ganz einfache Aktivitäten wie Spaziergänge in der Natur, Gartenarbeit und das Beobachten der Sterne tragen dazu bei, die Sprache zu verstehen. Beim Wandern im Wald oder am Fluss öffnen sich unsere Sinne, und wir nehmen die feinen Signale unserer Umgebung wahr - das Rascheln der Blätter, das Zwitschern der Vögel oder das Gefühl der warmen Sonne auf der Haut. Gartenarbeit verbindet uns tief mit der Erde - beim Pflanzen, Gießen und Pflegen lernen wir Geduld, Demut und die Kraft der Elemente.
Und wenn die Nacht hereinbricht, lädt der Himmel dazu ein, die Sterne zu beobachten. Das Betrachten der unendlichen Weite erinnert uns daran, wie groß und doch verbunden wir sind. In diesen Momenten der Stille und des Staunens können wir unsere Gedanken klären und eine tiefere Verbindung zu allem, was ist, spüren.

Die Natur ist wie ein lebendiges Buch. Jede Pflanze, jeder Stein, jeder Fluss erzählt seine eigene Geschichte und spricht in einer eigenen Sprache - die betrachtet, gelesen und verstanden werden kann.

Doch das Wichtigste ist, dass wir wieder lernen, zuzuhören, zu sehen, zu spüren - und uns dabei auch selbst zu erinnern. Denn wir sind nicht getrennt von der Natur, sondern ein Teil von ihr.


Petra Hinze führt eine Heilpraxis in Berlin, hält Seminare und Rituale. Das Herzstück ihrer Arbeit ist, die Zusammenhänge zwischen den ständig wiederkehrenden Rhythmen der Natur und uns selbst wiederherzustellen – erfahrbar zu machen, wie sehr Erleben und Fühlen, Wach-und Schlafrhythmus, Energieressourcen und unsere Lebensfreude mit der Natur korrespondieren. Das Aufdecken und die Vermittlung einer tieferen Bedeutung von körperlichen und seelischen Manifestationen liegen ihr zutiefst am Herzen. Weitere Informationen finden Sie auf ihrer Webseite www.petra-hinze.de

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Das lebendige Herz ... von Rainer Taufertshöfer

Es gibt Momente im Leben, die kein Buch, keine Predigt und keine Theorie erklären kann. Es sind jene seltenen Augenblicke, in denen sich der Schleier hebt und eine Wahrheit sichtbar wird, die jenseits aller Systeme liegt. Die Geschichte, die du hier lesen wirst, ist eine solche Offenbarung. Sie stammt nicht aus dem Verstand, sondern aus einer direkten Begegnung mit dem Göttlichen. Nicht erfunden, nicht interpretiert, sondern erlebt. Es ist die Geschichte meines spirituellen Meisters - und durch ihn die Geschichte Jesu selbst, neu gesehen, neu verstanden, in einem Licht, das nicht neu ist, sondern uralt: Bhakti, die hingebungsvolle Liebe zu Gott, oder, wie sie im Sanskrit heißt: Prema Bhakti, die höchste Form der göttlichen Liebe.

Was du im Folgenden liest, ist eine Erinnerung, ein Ruf und vielleicht ein Anfang:

Über viele Jahre hinweg reiste mein spiritueller Meister auch durch Europa. Er besuchte unzählige christliche Gebetsstätten, betrachtete alte Gemälde, betrat Kirchen, Kapellen, Kloster. Immer wieder stieß er auf dasselbe Bild: Jesus Christus mit erhobener Hand und einem brennenden Herzen auf der Brust.
Er betrachtete es mit offenem Geist - nicht als Gläubiger einer bestimmten Richtung, sondern als wahrhaft Suchender. Doch das, was ihm keiner beantworten konnte, lies ihn nicht los: Was bedeutet dieses flammende Herz wirklich? Warum zeigt Jesus darauf? Und was will diese Geste mit den zwei zum Himmel gerichteten Fingern sagen?
Er fragte Priester, Theologen, Ordensleute - doch niemand konnte ihm eine tiefe, wahrhaft lebendige Antwort geben. Zu viele Worte. Zu wenig Wahrheit. Jahre später, während einer spirituellen Reise durch Lateinamerika, kam er in ein kleines Haus. Es wurde von einer einfachen, heiligen Nonne geführt. Die Atmosphäre war durchdrungen von Stille - nicht feierlich, sondern wahrhaft heilig. Und dort an der Wand hing wieder dasselbe Bild.
Dieses Mal stellte er seine Frage nicht einem Menschen. Er sprach zu Jesus selbst - still, aufrichtig, aus der Tiefe seines Wesens. Und dann geschah es.
Jesus trat aus dem Bild heraus - nicht als Traum, sondern als lebendige Gegenwart. Seine Augen waren voller Licht, seine Stimme war lautlos - und dennoch unüberhörbar. Er sprach nur zwei Sätze. Doch in diesen beiden Sätzen lag die ganze Wahrheit:

"Gott wohnt in deinem Herzen. Und die Verbindung zu ihm ist unendlich."

Dann zeigte er es mit seinen Händen. Die rechte Hand erhoben, Zeige- und Mittelfinger zum Himmel gerichtet. Diese Geste war keine religiöse Pose, sondern ein Symbol. Die zwei Finger stehen für zwei ewige Wahrheiten: Dass Gott im Herzen jedes Wesens wohnt ... und dass die Verbindung zu ihm untrennbar ist. Die nach oben gerichtete Hand zeigt auf die göttliche Quelle - nicht auf einen fernen Himmel, sondern auf das, was über uns ist und zugleich in uns lebt. Sie erinnert:

"Du bist verbunden - innen wie oben, ewig wie jetzt."

Die linke Hand zeigte auf sein Herz - nicht als Wunde, sondern als Quelle lebendiger Liebe. Dieses brennende Herz ist kein Zeichen von Schmerz - es ist das Feuer der göttlichen Hingabe. Diese zwei Wahrheiten - das göttliche Herz in dir und die ewige Verbindung zur Quelle - waren die Essenz. Alles andere ist Auslegung.
Erst durch diese Begegnung begann mein Meister zu verstehen, was dieses Bild wirklich sagen will. Und aus diesem Moment - aus dieser direkten Übertragung - entstand das Bild, geboren aus seiner Vision.

Ich selbst hörte diese Geschichte zum ersten Mal viele Jahre später. Es war auf einer seiner Reisen durch Europa. In einem kleinen Raum voller christlicher Gläubiger sprach mein Guru über Jesus und Yoga. Wir waren nur wenige - einige seiner engsten Schüler begleiteten ihn durch Europa, ich saß still unter ihnen.
Er begann von der Begegnung zu sprechen - mit leiser Stimme, voller Liebe. Und als er jene beiden Sätze wiederholte, die Jesus ihm offenbart hatte, geschah etwas, das in mir bis heute nachhallt: Der Himmel, der draußen wolkenverhangen war, öffnete sich für einen kurzen Moment. Ein kleines Wolkenloch entstand - und aus ihm trat die Sonne hervor. Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch das Fenster und traf meinen Guru. Der ganze Raum, erfüllt von Stille, wurde plötzlich durchflutet von diesem Licht.
Es war nicht laut. Es war nicht spektakulär. Es war - gegenwärtig. Ich war den Tränen nahe. Ich schaute mich um und sah: alle weinten, jeder Einzelne - nicht aus Schmerz, nicht aus Rührung, sondern aus etwas Tieferem: Erinnerung.
Das neue Bild - inspiriert von dieser Offenbarung - zeigt Jesus als Bhakta. Nicht als Herrscher, nicht als Gründer einer Religion, sondern als Dienenden, Liebenden, Erinnernden. In seiner Hand hält er eine Japamala - eine Gebetskette mit 108 Perlen. Wie der christliche Rosenkranz - und doch tief im Bhakti-Yoga verankert.
Jesus trägt sie nicht als fremdes Objekt, sondern als vertrautes Werkzeug - ein stilles Zeichen dafür, dass sein Weg innere Wiederholung des Namens, Gebet, Erinnerung war.
Der Hintergrund zeigt indische Tempel. Sie stehen nicht zufällig dort. Zwischen seinem 13. und 30. Lebensjahr schweigen die Evangelien. Doch im Himalaya - in Ladakh, in Kashmir - erzählen alte Schriften und Überlieferungen von einem Mann namens Issa.
Die buddhistischen Chroniken des Klosters Hemis, bekannt durch das Werk: "The Unknown Life of Jesus Christ" von Nicolas Notovitch, berichten von Jesus - der kam, um zu lernen, zu dienen, und das Heilige zu leben. Er begegnete Brahmanen, Sadhus und Mönchen, lernte ihre Sprache, studierte ihre Lehren - und erkannte das Eine in allem. Diese Jahre in Indien sind keine Spekulation. Sie sind überliefert, verschwiegen, aber nicht ausgelöscht.
Und nun - durch das Bild, durch die Vision, durch das lebendige Herz - kehren sie zurück. Nicht als Widerspruch zum Glauben - sondern als Öffnung für seine Vollendung. Jesus verkörpert reine göttliche Liebe - Prema Bhakti (Bhakti in ihrer höchsten Form). Sein Herz brennt nicht im Schmerz, sondern in Hingabe.
Dieses Bild ist kein Anspruch, sondern eine Einladung an alle, die ihn nicht besitzen wollen, sondern bereit sind, ihm wirklich zu begegnen: Herz zu Herz. Mensch zu Licht.

Widmung:
Dieses Werk ist eine Antwort. Eine Antwort auf den Ruf meines Gurus, auf die Gegenwart Jesu, auf die Wahrheit, die sich in Liebe zeigt - nicht in Worten, sondern im Licht.
Ich widme es meinem spirituellen Meister - der nicht fragte, um zu wissen, sondern fragte, um zu erinnern. Und dessen Demut die Tür zur göttlichen Offenbarung öffnete.
Ich widme es allen, die aufrichtig suchen - nicht nach Religion, sondern nach Wahrheit. Nicht nach Systemen, sondern nach Verbindung. Nicht nach Kontrolle, sondern nach dem inneren Licht.
Ich widme es meinen Schülern, die auf dem Pfad des Herzens gehen und bereit sind, jenseits der Begriffe zu erkennen.
Ich widme es meinen Patienten, deren Heilung nicht nur körperlich, sondern spirituell geschieht - durch Rückverbindung zum Ursprung.
Ich widme es der Menschheit, die sich in einem neuen Zeitalter der Erinnerung befindet. Möge dieses Bild sprechen. Möge es durchdringen. Möge es erinnern. Denn in dir brennt dasselbe Licht. Und deine Verbindung zu Gott ist unendlich.
In Stille, in Hingabe, in Wahrheit.

- Prema Arjuna Das (Rainer Taufertshöfer) -


Rainer Taufertshöfer steht als Symbol einer neuen medizinischen Bewusstseinskultur: „Gesundheit ist kein Produkt. Sie ist das Resultat von Erkenntnis, Mut und Unabhängigkeit.“ Als interdisziplinärer Visionär vereint er in seiner Person über zwei Jahrzehnte tiefgreifender Erfahrung als Heilpraktiker, international gefragter Medizinjournalist, Fachbuchautor und spiritueller Forscher.

In seiner spezialisierten Naturheilpraxis für alternative Intensivtherapien begleitet er Menschen auf ihrem Weg zu echter Gesundheit, innerer Klarheit und gelebter Selbstverantwortung – weit entfernt von pharmakologischen Standardmodellen. Taufertshöfers ganzheitliches Therapiekonzept steht für eine kompromisslose Verbindung zwischen modernster biomedizinischer Forschung, epigenetischer Erkenntnis, naturheilkundlicher Praxis und spiritueller Tiefenschau.
Für weitere Informationen besuchen Sie die Webseiten: www.rainer-taufertshoefer-medizinjournalist.de und www.forschungsseminare.de. Telefonischer Kontakt und Terminvereinbarungen unter 05536-2353057


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Transformation toxischer Emotionen in der Fatima-Kapelle ... von Peter Maier

Das Auftauen von Traumata ist unumgänglich
In der spirituellen Welt fließen die Vergangenheit und die Gegenwart zusammen. Unser chronologischer Zeitbegriff spielt in der spirituellen "Anderswelt" keine Rolle, hier geht es vielmehr um zeitlose emotionale und religiöse Zustände. Damit gibt es eine starke Verbindung zwischen dieser spirituellen Denkweise und den Erkenntnissen eines psychologisch-medizinischen Themenkomplexes, der heute immer mehr an Bedeutung gewinnt: dem Fachgebiet der Trauma-Heilung. Denn für ein Trauma bleibt die Zeit stehen, es befindet sich ebenfalls in einem zeitlosen Zustand.

Selbst wenn es Jahre oder Jahrzehnte zurück liegt, ist die Wirkung so, als ob es sich erst soeben ereignet hätte. Bezüglich Traumata trifft das Sprichwort "Zeit heilt alle Wunden" eben überhaupt nicht zu. Denn durch ein Trauma wird der Lebensfluss blockiert, Emotionen erstarren und werden eingefroren. Für Emotionen, die im Moment ihrer Entstehung nicht verarbeitet werden können, bleibt die Zeit stehen. Sie kommen erst wieder ins Fließen, wenn man in der Lage ist, zu diesen Emotionen vorzudringen, d. h. sich mit ihnen zu konfrontieren und sie wieder aufzutauen. Dies kann sehr schmerzvoll sein.

Um sich das besser vorzustellen, kann der Vergleich mit einem Gletscher in den Alpen dienen. Vor etwa 40 Jahren ist in der Schweiz ein Bergsteiger abgestürzt, der in einem Gletschergebiet unterwegs war. Die Suche nach ihm blieb damals erfolglos. Als sich nun dieser Gletscher in Folge des Klimawandels immer mehr zurückzog, gab er auch die Leiche des Bergsteigers frei, der vorher viele Jahr lang im "ewigen" Eis eingefroren lag. Das Auffinden des Bergsteigers bedeutet in diesem Vergleich das Auffinden eines Traumas und des Erkennens der Ursachen seiner Entstehung.

Um auch das Auftauen eines Traumas selbst besser erfassen zu können, möchte ich - ebenfalls zum Vergleich - ein Erlebnis aus meiner Kindheit erzählen. Ich war beim Skifahren in kalten Wintertagen, hatte aber damals vor über 50 Jahren nur eine sehr schlechte Ausrüstung. Ich besaß keine richtigen Winterstiefel. Die Ski hatten damals eine Zugbindung, so dass man mit allen möglichen Schuhen damit fahren konnte. Begeistert vom Skifahren, achtete ich nicht auf die Kälte. Als ich heimkam, waren meine Füße eingefroren. Meine Oma erkannte das Problem schnell und steckte meine nackten Füße in ein kaltes Wasser. Ich schrie vor Schmerz, weil die gefrorenen Füße das nur etwa fünfzehn Grad kalte Wasser als extrem heiß empfanden. Aber nur dadurch konnten meine Füße auftauen und wiederbelebt werden und das Blut konnte wieder ungehindert durch die Adern fließen.

Viele Menschen verdrängen ihre Traumata, selbst wenn sie darum wissen, weil sie sich vor diesem "Auftauen" fürchten, sicher oft ein sehr schmerzlicher emotionaler und psychisch belastender Prozess. Das ist verständlich. Die Traumata können jedoch nur dadurch geheilt werden, indem man sie auftaut. Und das bedeutet, sich nochmals mit den schlimmen Szenen und Situationen ihrer Entstehung zu konfrontieren und sie nochmals zumindest im Ansatz zu erleben und zu fühlen.

Dies kann manchmal zum Beispiel in einer Psychotherapie geschehen. Wichtig ist, dass der Therapeut um die Bedeutung eines solchen Geschehens weiß und dem Klienten zur Seite steht, wenn ein Trauma aufgetaut wird. Die folgende Geschichte einer Trauma-Heilung beruht auf der ganz persönlichen Erfahrungen von Georg (66 Jahre, Name geändert). Bei seiner Heilung fließen spirituelle Erfahrungen seiner katholischen Tradition und Erkenntnisse der heutigen Trauma-Forschung zusammen.

Eine schlimme Kindheit
Die Mutter von Georg war mit ihm unerwartet schwanger geworden. Auf dem Land galt eine Frau mit einem unehelichen Kind damals als "verdorben" für den Heiratsmarkt und wenn es irgendwie möglich war, heirateten die Eltern vor der Geburt, um sich selbst und vor allem dem Kind das Stigma der Unehelichkeit zu ersparen. So war es auch bei Georg: Seine Eltern heirateten nur zwei Monate vor seiner Geburt. Doch seine Mutter wollte eigentlich kein Kind und sie war wütend, dass ihr Leben jetzt unerwartet diese Wendung genommen hatte. Als damals 20-Jährige meinte sie, ihr Leben sei durch das Kind versaut worden. In jedem Fall waren ihre ursprünglichen Lebenspläne zerstört. Darum war sie wütend auf ihr Kind, das aber doch gar nicht dafür konnte.

Georg bekam diese Wut seiner Mutter mehrfach ab: Er wurde schon bei seiner Geburt abgelehnt, seine Mutter versorgte ihn nur widerwillig. Aus vielen Erzählungen von Verwandten erfuhr er später, dass die Mutter sich permanent mit ihm als kleines Baby überfordert fühlte, ihn beim Wickeln schlug, wenn sie besonders wütend war und ihn stundenlang alleine schreien ließ, um ihn zu "erziehen". Bereits nach sechs Wochen hatten sich ihre Brüste entzündet, weil sie sich innerlich weigerte, sich dem Stillen hinzugeben. Sie ging ins nahe Krankenhaus und wollte das Baby nicht mehr sehen - vier Wochen lang nicht. Seine emotional sehr verschlossene Großmutter hat ihn damals mit dem Nötigsten versorgt. All das muss in Georg sehr starke Ängste und ein tiefes Isolationsgefühl ausgelöst, sowie in ihm den elementaren Eindruck erzeugt haben, gar nicht erwünscht zu sein in seiner Familie.

Diese traumatischen Erlebnisse schleppte Georg schon ein ganzes Leben lang mit sich herum. Auch eine jahrelange Psychotherapie konnte dieses Gefühl seiner Isolation nicht wirklich verändern oder gar heilen. Zudem fühlte Georg eine immer größere innere Unruhe in sich, je älter er wurde. Vor allem wurde er oft von starken Gefühlen wie Wut, Trauer und einer unerklärlichen (Lebens)Angst überflutet. Was sollte er nun tun? Wie könnte er Heilung von diesen frühen Erlebnissen in seiner Kindheit erfahren?

Aus seiner katholischen Tradition heraus entschied er sich für eine ganz persönliche Wallfahrt nach Maria Beinberg, das in der Nähe des oberbayerischen Schrobenhausen liegt. Unterhalb der Marien-Wallfahrtskirche gibt es die sogenannte Fatima-Kapelle, die Georg für sein ganz persönliches Ritual sehr geeignet erschien. Sie ist nach vorne offen, so dass man die Marienfigur schon von weitem sieht. Diese Maria hat einen "Nirwana-Blick", also einen Blick in die Ferne, vielleicht in eine ganz andere, spirituelle Welt. Von dieser Maria, die für Georg natürlich nur ein Symbol für die Göttliche Mutter selbst, also für den weiblichen Aspekt des Göttlichen darstellt, fühlte er sich schon seit langem angezogen und in seinem Inneren berührt.

Daher schien ihm genau diese Kapelle mit dieser Madonna geeignet, die schlimmen Erlebnisse mit seiner damals total überforderten weltlichen Mutter nun nach 65 Jahren zur göttlichen Mutter zu tragen und in ihrem Beisein eine Heilung von den uralten Traumata zu erbitten; und eine Transformation der in ihm längst toxisch gewordenen unverdauten Emotionen aus früher Kindheit zu ermöglichen. Wenn für Traumata keine Zeit vergeht, dann erschien Georg auch das Dasein der göttlichen Mutter in ihrem zeitlosen spirituellen Raum, wie er sie in der Kapelle wahrnahm, genau richtig für sein Heilungs-Anliegen. Doch wie sollte diese Heilung konkret geschehen? Hier sein ganz persönlicher Bericht:

Transformation toxischer Emotionen in der Fatima-Kapelle
"Zwei Kilometer entfernt von dem Wallfahrtsberg parkte ich mein Auto, konzentrierte mich auf die Intention meiner Wallfahrt, übertrat dann bewusst eine Schwelle, die ich mir aus Ästen auf dem Boden gebildet hatte und ging schon ab da geistig in eine Anderswelt, die ja jederzeit neben unserer Realwelt existiert: in eine spirituelle Welt. Während ich nun auf den Wallfahrtsberg zumarschierte, ließ ich nochmals meine Gedanken schweifen und stellte mir meine Anliegen immer konkreter vor, die ich der Heiligen Maria in der Kapelle vorbringen wollte. Meine Intentionen waren schließlich glasklar, als ich bei der Kapelle ankam.

Nun zündete ich zunächst für jede der in mir rumorenden Emotionen eine Kerze an, stellte sie auf den Kerzentisch und "besprach" anschließend jede Kerze mit der Emotion, die ich loswerden und transformieren wollte. Damit ließ ich die Emotion bewusst und begleitet von Gebetsworten aus meinem Inneren, aus Seele und Gemüt, heraus- und dann in die Kerzenflamme hineinfließen, damit sie dort verbrennen und in eine positive Emotion transformiert werden konnte. Da ich wusste, dass diese Kapelle mit der Fatima-Maria von vielen Gläubigen besucht wird, ist sie spirituell aufgeladen, so dass die gewünschte und beabsichtigte Transformation viel leichter als anderswo gelingen kann. Nachfolgend drei Beispiele:

1. Kerze: ‚Göttliche Mutter, hiermit übergebe ich Dir und der Flamme dieser Kerze die furchtbare, in mir schon so lange rumorende Angst meines Babys vor dem totalen Verlassen-sein und Alleinsein. Verwandle diese Angst und Panik in Geborgenheit in Dir als meiner Göttlichen Mutter. Ich danke Dir schon jetzt, dass Du meine Bitte erhört hast. Amen.'

2. Kerze: ‚Göttliche Mutter, hiermit übergebe ich Dir und der Flamme dieser Kerze die Wut auf meine Mutter. Verwandle meine Wut und meinen Groll auf sie in Verständnis und Liebe ihr gegenüber. Ich danke Dir, dass Du diese meine Bitte bereits erhört hast. Amen.'

3. Kerze: ‚Göttliche Mutter, hiermit übergebe ich Dir und der Flamme dieser Kerze meine Trauer über die schlimmen Erlebnisse als kleines Baby und als Kind. Verwandle diese Trauer in Gelassenheit und Güte und lasse mich geborgen sein in Dir als meine Göttliche Mutter. Ich danke Dir schon jetzt für die Erfüllung dieser meiner Bitte. Amen.'

Zu jeder Bitte sprach ich ein ‚Gegrüßet seist Du Maria' und stellte mir dabei vor, wie auch dadurch jede einzelne Bitte ins Göttliche ‚hochgehoben' wurde. Verstärkt durch dieses Marien-Gebet flossen die in mir rumorende Angst, die Wut und die Trauer aus meinem Gemüt heraus und zunächst in die Kerze, die ich jedoch für die jeweilige Emotion nur als Anhaltspunkt, Zwischenstation und Transportmittel betrachtete auf ihrem Weg ‚nach oben'. In jedem Fall spürte ich, wie meine Seele in diesem Kerzenritual die mich schon so lange quälenden und mich belastenden Emotionen abgab ins Göttliche, zur Göttlichen Mutter. Dies erleichterte mich enorm und meine Seele fühlte sich dadurch immer freier.

Als ich alle Kerzen aufgestellt, sie mit dem jeweiligen Anliegen besprochen und damit jede einzelne Emotion abgegeben und ‚hochgebetet' hatte, bedankte ich mich nochmals bei der göttlichen Mutter, verneigte mich vor der Statue und machte mich auf dem Rückweg zu meinem Auto. Auch dabei konnte ich feststellen, dass immer mehr psychische Last von mir abfiel. Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich viel leichter als vorher: befreit von einer jahrelang mit mir herumgeschleppten schweren emotionalen Last."

Reflexion
Man sollte die Wirkung dieses Vorgangs bei der Wallfahrt von Georg nicht unterschätzen. Nach Gabor Maté, dem bekannten kanadischen Trauma-Forscher, besteht der erste wesentlich Schritt einer Trauma-Heilung darin, dass die Betroffenen überhaupt erkennen, dass für ihre psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder chronischen Leiden wie Krebs, Multiple Sklerose oder rheumatoide Arthritis psychische Faktoren ausschlaggebend sind: toxisch gewordene Emotionen aus früher Kindheit. Diese schlimmen Erkrankungen werden häufig also von unbehandelten Emotionen aus früher Kindheit verursacht. Zu diesem ersten Schritt gehört es dann auch, dass Patienten die belastenden Situationen und die dabei erlebten Traumata konkret benennen können.

Traumata entstehen ja immer dann, wenn auftretende stressige Emotionen im Moment ihrer Entstehung und auch danach nicht aufgelöst werden und wieder abfließen können. Der Betroffene wird durch Emotionen überflutet wie eine Landschaft vom Hochwasser. Können die belastenden Gefühle dann über eine lange Zeit nicht beseitigt werden, bleiben sie in der Psyche des Betroffenen stecken, kippen um, werden toxisch und fangen an, immer mehr im Inneren zu rumoren. Dies war bei Georg der Fall.

Können nun die Symptome gedeutet und den stressigen Situationen in der Kindheit zugeordnet werden, dann kann dies oft schon eine starke psychische Entlastung und eine Heilung bewirken. Ich erkenne hierin den sogenannten "Rumpelstilzchen-Effekt": Indem das eigentliche (!) Problem hinter den psychischen oder körperlichen Symptomen benannt werden kann, können sie manchmal schon dadurch entweichen. Zumindest aber verlieren sie meist schon viel an ihrer toxischen Wirkung und können so das Körper-Geist-Seelen-System energetisch entlasten.

Im Fall von Georg gab es jedoch noch einen sehr bewusst gesetzten zweiten Schritt: Die bereits benannten Erlebnisse aus seiner Kindheit und die dabei entstandenen unerlösten Emotionen, wurden im bewussten Akt der Wallfahrt angetriggert und aus ihm "herausgeholt", indem er sie einzeln der Göttlichen Mutter übergab. Entscheidend für die erfolgreiche Wirkung dieses Rituals waren folgende Schritte:

1.) Zum einen hatte sich Georg auf dem Weg zur Kapelle sehr fokussiert und die einzelnen Emotionen bereits klar vor Augen, die er loswerden wollte. Er hatte sie also in sich "benannt" (siehe Rumpelstilzchen-Effekt).

2.) Dann übergab er jede einzelne Emotion je einer Kerzenflamme. Dadurch wurde er seinem ganzen emotionalen "Salat" in sich Herr, indem er diesen in emotionale Einzel- oder Teilportionen aufteilte. Mit dem rituellen und feierlichen Hinein-Sprechen in die Flamme konnten die einzelnen Emotionen dann aus seiner Psyche heraus- und in das Feuer der Kerze hineinfließen.

3.) Schließlich übergab Georg diese seine belastenden Emotionen zugleich einer höheren Instanz zur Umwandlung in ein positives Gefühl: Er "schob" sie zum Göttlichen, zur Göttlichen Autorität, zur Göttliche Mutter mit der Bitte um Annahme und Transformation ins Positive. Dadurch hatte er seine belastenden Emotionen los und die Göttliche Mutter hatte sie wie ein Staubsauger für emotionalen Abfall und für dunkle Energien auf einer spirituellen Ebene aufgenommen.

4.) Zudem bedankte sich Georg noch am Wallfahrtsort bei der Göttlichen Mutter für die Gewährung seiner Bitten und erhöhte so die Wirkung des ganzen Heilsgeschehens, weil er damit selbst aktiv an den Erfolg seines Rituals glaubte und nicht daran zweifelte. Er fühlte sich dabei bestärkt durch das Jesus-Wort in der Bibel: "Bittet, dann wird euch gegeben ..."

Georg machte später noch mehrere andere Wallfahrten, um dabei weitere Portionen belastender Emotionen loszuwerden. Nach mehreren Wochen konnte er selbst feststellen, wie es ihm immer leichter ums Herz wurde. Er konnte auf diese Weise viel Heilung erfahren.


Peter Maier: Lebensberatung, Supervision, Autoren-Tätigkeit

Bücher von Peter Maier:
WalkAway – Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst. Epubli Berlin 2023
Heilung – Die befreiende Kraft schamanischer Rituale. Epubli Berlin 2022
Heilung – Plädoyer für eine integrative Medizin. Epubli Berlin 2020
Heilung – Initiation ins Göttliche. Epubli Berlin 2020

Nähere Infos und Buchbezug: www.alternative-heilungswege.de , www.initiation-erwachsenwerden.de


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Die Sehkraft der Augen als Spiegel der Seele ... Silvia Pintér

Die Anforderungen an unsere Augen steigen ständig, zum Beispiel durch Computerarbeit, Tablet, Smartphone und ungesundes Licht. Die Folge sind oft trockene, lichtempfindliche, schmerzende Augen und schwächer werdende Sehfähigkeit, Kopfschmerzen und sogar Augenkrankheiten. Neben Stress am Arbeitsplatz können auch Angst, nicht gut genug zu sein, Erwartungen nicht zu erfüllen, zu versagen, Angst vor der Zukunft … zur Anspannung der Augen- und Nackenmuskeln führen.
Sehtraining und Sehtherapie bieten Hilfe zur Selbsthilfe und zeigen Wege, die Sehfähigkeit zu verbessern. Die natürliche Gesunderhaltung der Augen stärkt die eigene Kompetenz für unser Sehen. Mittels Sehspielen und Übungen zur Entlastung und Entspannung der Augen, Visualisierungen, Licht und Farben sowie zur Besserung der Augen-, Kopf- und Körperkoordination werden die Augen besser durchblutet und genährt. Ein entspanntes Sehen blockierende Gedanken und Emotionen können erkannt und aufgelöst werden, wodurch befreite Energie für das Sehen neu genutzt werden kann.

Die Geschichte des ganzheitlichen Sehens
Die Erkenntnis, dass unsere Sehkraft auf natürlichem Weg verbessert werden kann, wurde vom Augenarzt Dr. William Bates (1860-1931) bekannt gemacht. Er erforschte den Zusammenhang zwischen Sehschwäche und Augenmuskelanspannung durch seelisch-körperliche Überforderung. Seine Methode, die Sehkraft geschädigter Augen durch Entspannungsübungen wiederherzustellen, fand weithin Anerkennung und bildet noch heute die Grundlage vieler Augenübungen. Das Zusammenspiel von Augen und Gehirn kann durch Übungen erheblich verbessert werden.
Sein Buch "Besser sehen ohne Brille" erschien 1918. Er half tausenden Menschen, ihre normale Sehkraft wieder herzustellen. Für ihn waren Brillen nur Krücken, hinter denen die Leute ihre Augen, Geist und Seele verstecken. Seine Augenübungen führten zu besserer Durchblutung der Augen und machten sie widerstandsfähiger gegen Augenkrankheiten.
Margaret D. Corbett (1890-1960), eine Schülerin von Bates, schrieb das Buch "Besser Sehen". Ihr Ehemann wurde dank der Methode vor dem Erblinden gerettet. Ein weiterer Anhänger der Bates-Methode war der englische Autor Aldous Huxley, der das Buch "Die Kunst des Sehens" schrieb.
Dr. Janet Goodrich (1943-1999) benötigte mit 21 Jahren wegen Kurzsichtigkeit und Hornhautverkrümmung eine Brille mit -7 Dioptrien auf dem rechten Auge und -5 Dioptrien auf dem linken Auge. Sie besuchte die von M. Corbett gegründete "School of Eye Education" in Los Angeles, und zwei Jahre später bestand sie in Kalifornien ihre Fahrprüfung ohne optische Hilfsmittel. Sie schrieb ihre Doktorarbeit in Psychologie über die visuellen Blockierungen, baute in Australien das Zentrum "Vision Improvement" auf, wo sie Sehlehrer ausbildete und brachte die Bücher "Natürlich besser Sehen" und "Spielend besser Sehen für Kinder" heraus. Sie war die erste, die Augenübungen in Sehspiele verwandelte.

Augapfel und Augenmuskeln
Bis wir ausgewachsen sind, wächst unser Augapfel. Traumatische oder unangenehme, beängstigende Erlebnisse können zu Anspannungen im Körper und in den Augenmuskeln führen und die Ursache dafür sein, dass Augen eine Sehschwäche entwickeln.
Frauen, die sich stark unter Druck setzen, mit Gedanken perfekt oder besser sein zu müssen, neigen zu Anspannungen auch in den Augenmuskeln. Dieses Muster entsteht meist schon in der Kindheit und kann, wenn es bewusst ist, wieder gelöst werden. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Sehschwäche ursprünglich eine Art Schutzreaktion war, die wir heute nicht mehr brauchen, können wir Augenmuskeln von Verspannungen befreien.

Beidäugiges Sehen
Jedes Auge kann ein vollständiges Bild empfangen. Das Zusammenfügen der Bilder beider Augen geschieht erst im Gehirn. Durch das Verschmelzen beider Bilder entsteht dreidimensionales Sehen. Die Verschaltungen der Nerven im Gehirn sind bei der Geburt zunächst nur unvollständig angelegt. Das sich noch in der Entwicklung befindliche Sehsystem ist sehr empfindlich und scheinbar können emotioneller Stress und Bindungsstörungen in der Familie es beeinflussen. Zwischen beiden Augen kann es zu Kommunikationsschwierigkeiten und dadurch zu Fehlsichtigkeit und Schielen kommen. Beispielsweise wurde eine 35-jährige Frau, die als Kind von ihrem Onkel missbraucht wurde, durch Sehtraining und eine Familienaufstellung von ihrem Schielen befreit.

Veränderlichkeit der Sehfähigkeit
Untersuchungen von Menschen mit multiplen Persönlichkeiten ergaben, dass unter Hypnose die Sehfähigkeit von einer Persönlichkeit zu einer anderen wechselte. Im Buch und Film "The Three Faces of Eve" wird erzählt, wie zwischen Weitsichtigkeit, Astigmatismus und Farbenblindheit und den dazugehörigen Persönlichkeiten gewechselt wird. Das bedeutet, dass unsere Augen keinesfalls unveränderbar sind.
Das lässt darauf schließen, dass Sehschwächen nicht nur physisch bedingt sind, sondern größtenteils im Gehirn entstehen. Diese Forschung erschüttert die allgemeine Annahme, dass die Sehfähigkeit unbeeinflussbar ist.

Kurzsichtigkeit
Bei der Kurzsichtigkeit wächst der Augapfel durch Verspannungen der Augenmuskeln zu lang. Brillen oder Kontaktlinsen sind die Standardlösung. Das Problem selbst wird dabei nicht gelöst. In vielen Fällen verschlechtert sich das Sehen dadurch sogar, so dass oft im Laufe der Zeit immer stärkere Gläser oder Linsen verschrieben werden. Ich kenne viele Fälle von Frauen, die im jugendlichen Alter eine Brille bekamen und, wenn sie diese nicht trugen, später auch keine mehr brauchten. Um die Augen gesund zu erhalten ist empfehlenswert, sie immer wieder im Laufe des Tages von Sehhilfen zu befreien und die Augenmuskeln mit Sehübungen und Sehspielen beweglicher zu machen.

Alterssichtigkeit
Leider wird immer noch davon ausgegangen, dass wir ab Mitte 40 durch Verhärtung der Augenlinse unsere Fähigkeit verlieren, in der Nähe scharf zu sehen. Eine andere Theorie besagt, dass die Alterssichtigkeit durch eine Schwäche der Ziliarmuskeln verursacht wird, welche die Augenlinse wölben. 1975 wurde in einer Studie gezeigt, dass die Ziliarmuskeln auch im Alter noch arbeiten. 1992 wurde sogar festgestellt, dass sie ihre Kraft und Beweglichkeit nicht vor einem Alter von 120 Jahren verlieren. Wenn im Frühstadium mit Sehtraining begonnen wird, kann die Lesebrille vermieden werden. Auch später kann mit regelmäßigem Training auf eine Lesebrille wieder verzichtet werden, nur dauert es länger.

Brillen, Laserbehandlung und künstliche Linsen
Brillen rahmen die Augen ein, wodurch die Augenmuskeln unbeweglicher werden. Starre unbewegliche Augen haben weniger Energie und werden schlechter durchblutet und genährt. Die häufig empfohlene Gleitsichtbrille kann Irritationen im Gehirn verursachen, wodurch Gleichgewichtsschwankungen entstehen können, bis sich das Gehirn daran gewöhnt hat. Warum soll sich das Gehirn daran gewöhnen, wenn es andere Lösungen gibt? Ist es vielmehr eine gesunde Abwehrreaktion? Als andere Option wird immer häufiger Laserchirurgie angeboten. Als Nebenwirkungen können Schäden am Auge auftreten wie Schleier im Gesichtsfeld, Blend-Effekte, Lichtblitze oder trockene Augen. Es kann auch zu einer erneuten Kurzsichtigkeit kommen, denn die Operation bewirkt keine Veränderung des Augapfels.
Bei Kurzsichtigkeit und anderen Sehproblemen werden auch implantierte Linsen wie beim grauen Star (Katarakt) empfohlen. Dies ist allerdings keine lebenslange Lösung, da sie nicht leicht ausgetauscht werden können, wenn sich die Sehleistung ändert.

Sehtraining als Alternative
Sehtraining ist eine einfache und wirksame Methode für einen gesunden Umgang mit den Augen und leider immer noch wenig bekannt. Von den meisten Augenärzten und Optikern wird das Sehtraining als nicht wirksam abgelehnt. Andererseits bieten inzwischen Firmen, Institutionen und auch Krankenkassen Sehtraining für Mitarbeiter am Arbeitsplatz an. Auch Pädagogen in Kitas und Schulen sind zunehmend an Sehtraining interessiert, da Sehschwäche immer häufiger schon bei Kindern auftritt und in den Anfängen leicht behoben werden kann.
Unsere Sehfähigkeit ist abhängig von einer ausgeglichenen An- und Entspannung der Augenmuskeln und deren Beweglichkeit. Eine gute Gehirn-Augen-Koordination kann durch spezielle Übungen und durch Visualisieren unterstützt werden. Die Augen können wie der Körper bis ins hohe Alter fit bleiben, wenn wir uns ihnen zuwenden. Dabei kommt es weniger darauf an, ein starres Übungsprogramm ablaufen zu lassen, sondern neue erlernte, entspannende Sehgewohnheiten in den Alltag zu integrieren.

Das Lichtspektrum
Glühlampen, Leuchtstofflampen oder Sparlampen weisen erhebliche Unterschiede zum Sonnenlicht auf. Leuchtstoffröhren stören durch ihr Flimmern die eigene Schwingung der Netzhaut- und der Gehirnzellen. Die Folgen können Müdigkeit, Energielosigkeit, Reizbarkeit, Kopfschmerzen, Augenbrennen, Depression, eine Schwächung des Immunsystems und Degenerationskrankheiten sein.

Sonnenlicht
Das Sonnenlicht mit den Farbschwingungen des Regenbogens ist wichtig für eine gute Funktion der Sehzellen. Die Sehzelle ist wie ein kleines Sehkraftwerk, das von außen durch Licht und Farben und von innen durch das Blutsystem des Körpers Energie erhält. Durch Sonnenlicht steigern wir unsere Wahrnehmung und unser Sehen erhält mehr Tiefenschärfe und Farbe. Sonnenlicht regt das vegetative Nervensystem, das Hormonsystem und den Stoffwechsel an. Ein Mangel an Sonnenlicht macht Augen lichtempfindlich und kann Nachtblindheit verursachen. Brillen und Kontaktlinsen halten einen Teil des wichtigen UV-Lichtes ab. Deshalb sollten sie beim Sonnenbaden abgenommen werden.

Sonnenbrillen …
Die Augen werden durch Tragen von Sonnenbrillen oder getönten Brillen immer lichtempfindlicher und sollten daher nur bei extremer Sonnenbestrahlung getragen werden wie bei Schnee in den Bergen oder auf dem Wasser.

Buchempfehlungen:
Janet Goodrich: "Natürlich Besser Sehen" und "Spielend besser Sehen für Kinder" Dr. Jacob Liberman: "Die heilende Kraft des Lichtes" Elke Brandmayer, Dr. med. Bodo Köhler: "Licht schenkt Leben"


Silvia Pintér gibt seit 1987 Kurse Sehtraining/Sehtherapie für Erwachsene und Kinder sowie Ausbildungen zum/zur „Sehpädagogen/in“. Sie wurde von Janet Goodrich 1990 zur Sehlehrerin ausgebildet und Lehrerin für die „Vision Circles“ (Sehkreise) nach Paul Dennison. Außerdem ist sie seit 1987 Lehrerin für Kinesiologie.
Eigene Entwicklungen: Systemische Arbeit nach Virginia Satir für die Augen, die „Homolaterale Augenmuskelkorrektur“ bei Abweichungen des beidäugigen- und dreidimensionalen Sehens. Weitere Infos unter: www.NatuerlichBesserSehen.de


Hinweis zum Artikelbild: © fizkes – AdobeStock



Superfood Girsch ... Heilpflanzentipp von Barbara Simonsohn

Der Giersch ist bei Gartenbesitzern nicht sehr beliebt, eher ein Alptraum, weil man ihn wegen seiner unterirdischen Ausläufer kaum jemals eliminieren kann. Der englische Arzt und Botaniker John Gerard entrüstete sich über den Doldenblütler: "Es wächst von allein im Garten, ohne dass man es gepflanzt oder gesät hat, und ist so vital, dass es, einmal da, nicht wieder wegzukriegen ist." Jedes noch so kleine Rhizom-Stückchen wächst erneut zu einer Pflanze heran. Auf Unkrautvernichter reagiert Giersch nicht. Warum nicht Frieden mit dieser Pflanze schließen? Wenn Sie diesen Artikel gelesen haben, werden Sie die potente Wildpflanze und heimisches Superfood vielleicht mit anderen Augen sehen und geben den vergeblichen Kampf gegen diesen Überlebenskünstler auf. Vielleicht landet Giersch stattdessen als Lebens- und Heilmittel auf ihrem Teller.

Etwas zur Geschichte
Es handelt sich aber um ein wohlschmeckendes und heilkräftiges Wildgemüse, was schon in der Antike beliebt war. Die alten Römer bauten Giersch an, um ihn gegen die Nachwirkungen rauschender Feste parat zu haben. Er lindert nämlich Gichtanfälle nach ausgiebigem Alkoholkonsum. Die christlichen Mönche des Mittelalters weihten Giersch als "Herba Sancti Gerharde" dem heiligen Gerhard, weil man glaubte, dieser habe seine Gicht mit dieser Pflanze geheilt. Der heilige Gerhard was ein Schutzpatron Ungarns und ein international bekannter Bischof. Hildegard von Bingen lobte den Giersch, der in den mittelalterlichen Klostergärten als Gemüse kultiviert wurde. Giersch wurde Rheumatikern empfohlen, um ihn als Einlage in die Schuhe zu geben.
Der lateinische Name vom Giersch ist Aegopodium podagraria, er wird auch Zipperleinskraut oder Podagrakraut genannt, weil er durch seinen Kaliumreichtum bei Gicht hilft. "Podagra" heißt "Gicht der großen Zehe", und in der Volksmedizin wurde bei Gicht oder Rheuma ein Alkohol-Auszug innerlich als Blättertee und vor allem äußerlich in Form von warmen Breiumschlägen auf die geschwollenen Gelenke gelegt. Auch bei Insektenstichen, Ischias, Rheuma und Hämorrhoiden packte die Volksmedizin Giersch in Auflagen und gab eine Abkochung aus gedörrten Gierschwurzeln ins Badewasser von Menschen, die unter Gicht, Rheuma oder Krampfadern litten. Ab dem 14. Jahrhundert war Giersch am polnischen Königshof sehr geschätzt. Kräuterpfarrer Künzle empfahl den Tee bei Ischias, Rheuma und äußerlich bei Mückenstichen. In der Volksmedizin gilt Giersch als Heilmittel auch bei Durchfall und zur besseren Wundheilung.
"Aegopodium" bedeutet "ziegenfüßig", die auffällige Form der jungen Blätter hat der Pflanze auch den Namen "Geißfuß" gebracht. "Aigos" heißt Ziege, "podion" heißt "Füßchen". Der Giersch bildet eines der Hauptbestandteile der Neun-Kräutersuppe, die als Frühjahrssuppe die vitaminarme Zeit beendete und die vorzugsweise am Gründonnerstag, am "Grünkräutertag", serviert wurde. Diese Suppe regt die Drüsen an, entschlackt und vertreibt Frühjahrsmüdigkeit.

Etwas zur Verbreitung und Botanik
Der Giersch ist einheimisch in Europa und großen Teilen Asiens. Es handelt sich um eine ausdauernde Pflanze, die im Frühjahr aus dem Wurzelgeflecht neu austreibt und Wuchshöhen zwischen 50 und 100 Zentimetern erreichen kann. Die jungen Blätter sind hellgrün, glänzend und gefaltet. In diesem Stadium sind Gierschblätter lecker einfach so oder im Salat. Der Geschmack ist eine Mischung zwischen Sellerie, Möhre und Petersilie. Ausgewachsene Blätter werden matt und färben sich dunkelgrün. Die gefiederten Blätter sind leicht gezähnt, sitzen jeweils zu dritt verzweigt und an dem charakteristischen dreikantigen Stiel. Der durchgeschnittene Blattstiel präsentiert sich in der Schnittfläche als Dreieck. "Der Giersch ist schnell erkannt, nimmt man den Blattstiel in die Hand" (Rudi Beiser: in "Wildkräuter"). Weil die Blätter eine gewisse Ähnlichkeit mit Holunderblättern haben, heißt Giersch auch Holderkraut oder Erdholder. Andere Namen sind Hasenscharling oder Gänseschärtele, weil die Pflanze bei Hasen, Kaninchen und Gänsen ein beliebtes Futter darstellt.
Im Juni und Juli erscheinen die Blütendolden an aufrechtstehenden Stängeln, die sich verzweigen und aus den Blattachseln weitere Stängel mit Blütendolden hervorbringen können. Die große Blütendolde besteht aus vielen kleinen einzelnen Blütendolden, man spricht von "doppelten Doldenblüten". Die Samen werden von Juli bis September gebildet und können frisch oder getrocknet in der Küche als Gewürz verwendet werden. Sie ähneln optisch und geschmacklich Kümmelsamen.
Der kleine Doldenblütler wächst gern unter Gebüsch und kriecht durch Zäune und Hecken, weshalb er auf Plattdeutsch auch "Krup-dör-de-Tuun" (kriech durch den Zaun) heißt. Weitere Namen sind Dreiblatt oder Wiesenholler. Er liebt feuchte und eher schattige Standorte. Der Schriftsteller Jürgen Dahl outete sich als seltener Giersch-Fan: "Giersch ist ein absolut wartungsfreies und unentwegt nachwachsendes Dauergemüse." Wenn Sie in Ihrem Garten Giersch ab und zu mit der Sense oder Sichel abmähen, haben Sie bis in den Herbst hinein junge schmackhafte Blätter.
Wie jede Wildpflanze hat auch der Giersch einen ökologischen Nutzen. Nicht nur, dass die Pflanze den Boden feucht hält. Seine Blätter sind Futterpflanze für verschiedene Nachtfalter wie die Flohkrauteule oder die Pfeileule. Bienen, Wildbienen, Käfer und Fliegen laben sich am Nektar der weißen Doldenblüten.

Inhaltsstoffe, ihre Bedeutung und Anwendungen
Giersch gehört zu den proteinhaltigsten heimischen Wildpflanzen. Die Pflanze ist besonders reich an Betakarotenen, Vitamin C, Mineralstoffen und sekundären Pflanzenstoffen mit antioxidativer und krebsvorbeugender Wirkung. Hundert Gramm Giersch enthalten 16,6 Milligramm Eisen, 1,99 Milligramm Kupfer, 2,26 Milligramm Mangan, 3,9 Milligramm Bor, und außerdem noch Calcium und Magnesium (vgl. Wolf-Dieter Storl: Die "Unkräuter" in meinem Garten). Giersch enthält 15-mal so viel Protein und Vitamin C wie Endiviensalat (vgl. Rudi Beiser: Wildkräuter). Der Eiweißgehalt beträgt 6,7 Gramm pro 100 Gramm. Außergewöhnlich hoch ist der Kaliumgehalt, was vor allem unseren Muskel- und Nervenzellen zugutekommt. Kalium ist das wichtigste Elektrolyt in unserem Körper und ist besonders wichtig für eine gesunde Herz- und Nierenfunktion.
Die sekundären Pflanzenstoffe in Giersch wie Harze, ätherische Öle, Flavonoide wie Hyperosid und Isoquercetin, Polyphenole wie Kaffee- und Chlorogensäure, sowie Phenolcarbonsäuren entgiften unseren Organismus vor allem von Harnsäure, die bei der Verdauung von Fleisch anfällt, und wirken antioxidativ, antibakteriell und antiviral. In der Volksmedizin und Homöopathie spielt Giersch eine Rolle und hilft bei Rheuma- und Gichterkrankungen, wirkt harntreibende, krampflösend, entzündungshemmend und entsäuernd, und äußerlich in Umschlägen bei Verbrennungen, Verstauchungen und Insektenstichen und als Badezusatz bei Hämorrhoiden.
Noch immer hält man in Russland Giersch für eine der nützlichsten Speisepflanzen. Dort bereitet man aus den Stielen eine Art Sauerkraut zu, trocknet die Blätter für Suppen und Eintöpfe, und gibt die jungen Blätter in den Wildkräutermischsalat und macht aus den älteren Blättern Spinat, Aufläufe, Bratlinge und Suppen. Die reifen Samen kann man wie Kümmel als Küchengewürz verwenden. Ich empfehle die Blätter auch für grüne Smoothies, Pestos, Pizzen, Quiche, Ravioli, Maultaschen, als Bestandteil von grünem Kartoffelpüree, fein gehackt in pflanzlicher Kräuterbutter und die Blüten als essbare Dekoration von Speisen. Blütenknospen schmecken sehr würzig und leicht scharf.
Dr. Markus Strauß nennt Giersch in "Die Wildpflanzen-Apotheke" "ohne Zweifel ein einheimisches Superfood". Theresia de Jong schreibt in ihrem Buch "Das Helga Köhne Wildkräuterbuch", dass sie mit Giersch ihre Arthrose geheilt hat, "ich habe mich mit dem Giersch wie am eigenen Schopfe aus dem Sumpf gezogen."
Eine besonders kaliumreiche Unterart des Dreiblatts Aegopodium podagraria ssp. potassa enthält mit bis zu 6,3 Gramm Kalium pro 100 Gramm besonders viel Kalium, zum Vergleich enthalten Kartoffeln nur 1,1 Gramm Kalium pro hundert Gramm.
Kalium ist der Gegenspieler zu Natrium, das wir vor allem über (zu viel) Kochsalz aufnehmen, ist wichtig fürs Säure-Basen-Gleichgewicht, für Herz und Muskeln, Verdauung, Stoffwechsel und unser Energielevel. Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Krebs und Osteoporose werden mit einem Mangel an Kalium in Verbindung gebracht.
In Deutschland erreichen etwa 70 Prozent der Männer und 80 % der Frauen nicht die von der DGE - Deutsche Gesellschaft für Ernährung - als "angemessen" betrachteten 4000 Milligramm Kalium pro Tag. Unsere Vorfahren in der Steinzeit haben durchschnittlich 10 500 Milligramm Kalium pro Tag aufgenommen (vgl. Dr. Stefan Hügel: Die Mineralienwende). Unsere Vorfahren haben 14 Mal so viel Kalium wie den Gegenspieler Natrium zu sich genommen, unser Verhältnis ist 0,8 zu 1 (vgl. ebd.) Wer auf ein langes und gesundes Leben wert legt, sollte unbedingt genügend Kalium zu sich nehmen. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sinkt rapide mit steigender Kaliumaufnahme, wie eine große Studie ergab, die in der renommiertesten medizinischen Zeitschrift "The Lancet" veröffentlicht wurde (vgl. A. Mente u. a., "Urinary sodium excretion, blood pressure, cardiovascular disease, and mortality: a community-level prospective epidemiological cohort study. The Lancet. 2018; 392: 496-506). Beim Garen von Gemüse und Kartoffeln können die Verluste an Kalium je nach Garbedingung und Gemüseart bis zu 75 Prozent erreichen.
Für jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen, der Giersch ist gleich hilfreich bei verschiedenen Zivilisationserkrankungen. "Warum in die Ferne schweifen, denn das Gute liegt so nah." "We are born to be wild", wir sollten mehr heimische Wildpflanzen essen, meinen etliche Wildkräuter-Autoren. Zurück zum Gleichgewicht, back to balance mit den Kräften der Natur, heißt daher in meinen Augen das Gebot der Stunde.


Rezepte mit Giersch

Gierschgemüse
Man braucht hierfür ein Drittel etwas dunklere Gierschblätter, ein Drittel Zwiebeln und ein Drittel Kartoffeln. Kartoffeln kochen. Währenddessen die Zwiebeln kleinschneiden und zwei EL Kokosöl in einem Topf erhitzen und die Zwiebeln darin andünsten. Den gewaschenen und tropfnassen Giersch dazugeben, den Deckel auflegen und den Giersch zusammenfallen lassen. Ab und zu umrühren. Wenn der Giersch droht, anzubrennen, eventuell etwas Wasser zugeben. Die gegarten Kartoffeln zum Giersch geben, alles miteinander vermischen und mit Salz und Pfeffer abschmecken. Gedünstete Möhren sind eine leckere und dekorative Ergänzung. Alternativ kann man Porree klein schneiden, mit Giersch garen lassen und im Anschluss mit Salz, Pfeffer und Tomatenmark abschmecken.

Giersch-Aufstrich
Einige geschnittene Zwiebeln in zwei EL Kokosöl anbraten. Eine Handvoll Giersch mit wenig Wasser einige Minuten dünsten. Den abgegossenen Giersch mit frischem Sauerkraut nach Geschmack pürieren und mit Salz und Pfeffer abschmecken. Hält sich einige Tage im Kühlschrank.

Grüner Giersch-Smoothie
Man braucht hierfür zwei Hände voll Giersch-Blätter mit Stängeln, eine Banane, fünf Datteln und eine halbe Avocado. Giersch klein schneiden und mit den Früchten und Wasser pürieren und mit einem Giersch-Blatt garnieren. Wer hat, gibt einen TL Gierschsamen hinzu.


Barbara Simonsohn (geb. 1954) ist Ernährungsberaterin und Reiki-Lehrerin. Seit 1995 hat Barbara Simonsohn zahlreiche Ratgeber im Bereich der ganzheitlichen Gesundheit veröffentlicht. Ihre Webseite: www.barbara-simonsohn.de

Hinweis zum Artikelbild: © ExQuisine – AdobeStock


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